Hamburg. Im Maschinenraum der Demokratie: 900 Ehrenamtliche zählten in der Barclaycard Arena die Stimmen der Wähler aus.
Es gibt nicht viele Veranstaltungen in der Barclaycard Arena, die mit freiem Eintritt locken. Wo tags darauf die Band Jamiroquai über die Bühne fegt, Acid-Jazz-Perlen ins Publikum schleudert und sich über die Ticket-Einnahmen freuen wird, ist an diesem Montag ein kostenloser Act besonderer Art zu bewundern: 900 ehrenamtliche Wahlhelfer zählen die Bezirksversammlungswahl aus.
Anders als Jamiroquai verzichten sie auf eine Lichtshow. Der Innenraum der Halle ist hell erleuchtet. Weiße Stellwände unterteilen den Raum zwischen den Rängen. In den rechteckigen Waben, möbliert nur mit Tischen und Stühlen, wird ausgezählt: Eine Wabe pro Wahlbezirk. „110 der 248 Wahlbezirke Altonas haben wir hier untergebracht“, sagt Martin Roehl, Sprecher des Bezirksamts Altona.
Viele junge Leute sind dabei
Tausende von Stimmzetteln werden in diesen Waben zu Stimmzahlen, Stimmanteilen und schließlich zu Sitzen in der Bezirksversammlung verarbeitet. Der Grund für die Auszählung in der Arena ist klar. Viele Hamburger konnten ihre Stimme am Sonntag in Schulen abgeben. Dort wurde am Abend dann zunächst die Europawahl ausgezählt. Da am Montag aber wieder unterrichtet wurde, musste für die durchaus komplizierte Ermittlung der Ergebnisse der Bezirksversammlungswahl andere Räumlichkeiten gefunden werden.
Im Maschinenraum der Demokratie ist es bemerkenswert ruhig. Wäre es nicht viel schöner, dem grellen Bühnenlicht zu entfliehen und draußen die Sonne zu genießen? Nein, von solcher Unzufriedenheit ist in der Barclaycard Arena eigentlich nichts zu spüren – obwohl viele für den Zähl-Tag einen Tag Urlaub genommen haben. Erstaunlich viele junge Leute sind dabei. Immer wieder dringt Gelächter aus den Waben. „Ich finde das sehr löblich, dass so viele Junge mitmachen“, sagt Gisela Krüger. Die freundliche Luruperin, die im kommenden Jahr 80 wird, zählt schon seit 1989 Stimmen aus. „Mir liegt das, ich hatte auch im Beruf immer mit Zahlen zu tun.“ Bis sie in Rente ging, war sie Buchhalterin beim Immobilienmakler Engel & Völkers. Auch heute noch hilft sie da regelmäßig aus. Gisela Krügers Ruhestand ist von sehr lebendiger Art.
Erst die komplizierten Fälle abarbeiten
Ihr Wahlbezirk 220-13 ist im Backstage-Bereich der Arena untergekommen. Irgendwo im Niemandsland zwischen einer Lkw-Einfahrt und einem Lagerbereich haben die Planer vom Bezirksamt ein paar Trennwände aufgestellt. Wer nach oben blickt, sieht ein Gewirr von Leitungen.
Aus Chaos Ordnung machen – das ist die Aufgabe der Wahlhelfer. Sören Bachmann, der Wahlleiter des Bezirks 220-13, ist einmal kurz geschult worden und hat eine Art Ablaufplan in die Hand bekommen. Das Prinzip lautet: Erst die komplizierten Fälle abarbeiten, am Ende wird es dann einfach. Zunächst müssen die gelben Stimmzettelhefte mit den Bezirkslisten bearbeitet werden. Zählen, sortieren. Zwei Stapel entstehen. Einer mit gültigen Heften, der andere mit Heften, bei denen es Zweifel gibt.
Sogenannte Heilungsregelung
Jedes einzelne dieser Hefte muss sorgfältig unter die Lupe genommen werden. Kann es tatsächlich nicht gewertet werden? „Wo keine Kreuze gemacht worden sind, sondern eine Partei durchgestrichen ist oder Ähnliches, da ist es natürlich klar“, sagt Gisela Krüger. Andere Fälle sind komplizierter. Was passiert zum Beispiel mit einem Heft, bei dem nicht nur die maximal möglichen fünf, sondern zehn Kreuze gemacht wurden – fünf in der Spalte Gesamtliste und fünf bei einem Listenkandidaten derselben Partei? Hier gilt eine Heilungsregelung. Die fünf Stimmen für die Gesamtliste gelten.
Danach wird weiter sortiert. Nun kommen die Hefte dran, in denen nicht alle Stimmen einer Partei gegeben wurden, sondern die Kreuze auf mindestens zwei Parteien verteilt wurden. Jede Stimme wird verlesen und auf einer Liste abgestrichen. Diese Listen sind ein Hochgenuss für Zahlenfreude, anderswo gingen sie auch als Kunstwerk durch. In kleinen Feldern stehen die Zahlen von 1 bis 1000. Bei jeder Stimme wird ein Feld ausgestrichen.
Spitzenlöhne werden hier nicht gezahlt
Die Wabenbesatzungen, alle um 8 Uhr gestartet, fallen nun jetzt zeitlich auseinander. Hier wird noch über Gültigkeitsgründe debattiert, dort sind die gelben Stimmzettelhefte schon fertig bearbeitet, und dort, eine Wabe weiter, ruht die Arbeit: Rauchpause. Vor der Tür der Arena wird derweil Menschliches besprochen – etwa, wie man eine Wohnung mit wenig Aufwand für die Übergabe fit machen kann. Vor der Tür wird aber auch Fachliches debattiert: Warum funktioniert die Kontrollrechnung bei der Wahlniederschrift nicht? „Du hast die falschen Zahlen genommen, du musst sie aus dieser Spalte nehmen“, sagt eine junge Frau mit schwarzen Haaren und schneeweißer Hose – man hilft einander.
Im Wahlbezirk 220-13 ist schon alles ausgezählt. Gisela Krüger weiß, was dabei hilft: „Nicht so viel schnacken.“ Die sechs Wahlhelfer, drei Frauen und drei Männer, hatten allerdings auch ein wenig Glück. Viele Hamburger, die in ihrem Bezirk das Wahlrecht hatten, haben es nicht genutzt. Rund 400 Wähler nur, gut 800 Stimmhefte für Bezirk und Wahlkreis – das war zu schaffen. Um 12 Uhr schreitet Wahlleiter Sören Bachmann zur vorvorletzten Tat: Das Geld wird ausgezahlt. Barzahlung ist vorgeschrieben. 100 Euro bekommt jeder Wahlhelfer, die Wahlleitung ein bisschen mehr. An diesem Montag wechselt in der Barclaycard Arena viel Geld den Besitzer. Man könnte allerdings auch sagen: Im Maschinenraum der Demokratie werden nicht gerade Spitzenlöhne gezahlt.
Die Wahlurne ist versiegelt. Der Umschlag mit den Ergebnissen geht an die Wahlleiter, die weiter vorn der Arena sitzen. Auch der allerletzte Punkt des Ablaufplans ist erfüllt: „Ordentlich und sauber“ seien die Räume zu hinterlassen. „Bis zur nächsten Wahl“, sagt Gisela Krüger.