Hamburg. Krankenkassen reichen in einer Woche 3000 Klagen gegen Kliniken ein. Aus Angst vor dem neuen Pflegepersonal-Stärkungsgesetz.
Hilferuf aus der Hamburger Justiz: Innerhalb einer einzigen Woche sind bis zum 9. November 3000 Klagen beim Hamburger Sozialgericht eingegangen. Das entspricht einem Drittel des gesamten jährlichen Klageeingangs. Allein das Erfassen der Eingänge im EDV-System werde noch Wochen dauern, erklärte der Sprecher des Sozialgerichts Hamburg, Andreas Wittenberg.
„Eine Klagewelle dieses Ausmaßes überfordert ohne Frage die personellen Ressourcen des Sozialgerichts. Dies gilt sowohl für die Richterinnen und Richter als auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Geschäftsstellen“, sagte Wittenberg. Die tatsächliche Fallzahl sei sogar noch deutlich höher, weil viele Klagen sich gesammelt auf mehrere hundert Einzelfälle beziehen.
Gesetzgeber halbiert die Verjährungsfrist
Die 3000 Klagen kommen sämtlich von Krankenkassen. Sie beanstanden Abrechnungen der Krankenhäuser für geleistete Behandlungen ihrer Patienten. Der Grund für die Klagewelle ist das neue „Pflegepersonal-Stärkungsgesetz“ des Bundes aus Berlin. Es hat die Verjährungsfrist fürs Beanstanden fehlerhafte Abrechnungen halbiert, so dass die Kassen, wenn sie überhaupt noch Ansprüche gegen die Kliniken geltend machen und Geld für Fälle von 2016 und früher zurückbekommen wollen, ihre Ansprüche unverzüglich geltend machen mussten.
Die in den letzten Ausschussberatungen kurzfristig in das neue Gesetz aufgenommene Übergangsregelung legt als Stichtag für das Verfallen der weiter als zwei Jahre zurückliegenden Ansprüche den 9. November 2018 fest.
Eine Übergangslösung existiert nur auf dem Papier
„Das hat viele Krankenkassen veranlasst, zur Wahrung ihrer Chance auf Rückzahlungen Klage einzureichen“, sagte Wittenberg. Zeit für klärende Gespräche mit den Krankenhäusern gab es praktisch nicht. „Der Gesetzgeber hat dafür nur wenige Tage gelassen. Das ist zu kurz, um außergerichtliche Einigungen und Vergleiche zu verhandeln“, sagte Wittenberg. Wo früher ein einziger Mitarbeiter in der Geschäftsstelle die eingehenden Fälle erfasste, sitzen derzeit vier – zu Lasten anderer Bereiche der Hamburger Sozialgerichte.
Die immens gestiegene Zahl der Klagen werde „die Arbeitskraft der Richter und Geschäftsstellenmitarbeiter auf Jahre binden“, sagte Wittenberg. „Auch wenn das Sozialgericht dringende soziale Anliegen der Bürger gern vorrangig behandeln will, wird sich eine Verlängerung der Dauer auch solcher Prozesse nicht vermeiden lassen.“
Die Bundespolitik hat sich verschätzt
In der Hamburger Justizbehörde ist das zunächst noch vorherrschende „Stadium der Kenntnisnahme“ bereits offenem Entsetzen gewichen. Behördensprecherin Marion Klabunde: „Die Klagewelle ist an den Sozialgerichten bundesweit ein Problem. Verursacht hat dies der Bundesgesetzgeber, der die Sozialgerichte mit seiner ‘spontanen’ Übergangsregelung ganz schön hängen lässt. Auf der gestrigen Justizministerkonferenz haben sich die Länder über das Problem ausgetauscht und festgestellt, dass sie das nicht so schnell auffangen können.“ Ob den Sozialgerichten mit Sofortmaßnahmen geholfen werden kann und welche das gegebenenfalls sein würden, ist noch völlig offen.
Das Dilemma der Sozialgerichte geht auf einen klassischen Rohrkrepierer der Bundespolitik zurück. Die hatte eigentlich die Sozialgerichte in den Bundesländern entlasten wollen. Deshalb hat sie die Verjährungsfristen für Ansprüche gegen die Kliniken nicht nur halbieren wollen, sondern die Übergangregelung dafür so terminiert, dass sie 1. ganz kurzfristig ins Gesetz aufgenommen wurde und 2. mit Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Januar 2019 bereits abgelaufen sein wird.
Die Kassen ließen sich nicht austricksen
Bei der dritten und letzten Lesung des Gesetzes am 9. November im Bundestag wurde der 9. November als Stichtag ins Gesetz aufgenommen, Lesung und Ablaufdatum der Frist fielen zusammen. Doch die Vertreter der Krankenkassen haben im Vorfeld der ominösen Lesung den Braten gerochen und rechtzeitig auch das Kleingedruckte mitgelesen. Deshalb haben sie in einer Art konzertierten Aktion und mit einer großen Kraftanstrengung in vielen Überstunden ihre Ansprüche gewahrt, indem sie sozusagen vorbeugend Klage erhoben haben.
Sie reichten die Unterlagen teils durchaus unvollständig bis zum 9. November bei Gericht ein und kündigten an, fehlende Dokumente einfach nachzuliefern. Damit haben sie die Frist gewahrt und ihre Chancen erhalten, auch für strittige Fälle von 2016 und früher noch Erstattungen von den Kliniken zu erstreiten.
Gerichte baden aus, was die Politik nicht löst
Wittenberg sprach davon, dass die Gerichte jetzt ausbaden müssten, was im Gesundheitswesen schief laufe. Es fehle ein institutionalisierter Schlichtungsmechanismus, der Streitigkeiten zwischen Kassen und Kliniken außergerichtlich beizulegen suche. „Es gibt zuwenig Konfliktlösungsmechanismen.“
Nötig wäre es jetzt, die beiden Parteien bundesweit an einen Tisch zu bringen und zu klären, wie mit den in die Verjährung laufenden Fällen von 2016 und früher umgegangen werden solle. Doch selbst wenn das geschehen sollte, bliebe erhebliche Mehrarbeit an den Gerichten hängen. „Die Klagen sind in der Welt, sie können nicht einfach zurückgenommen werden“, sagte Wittenberg. „Sie müssen erfasst und gegebenenfalls ruhend gestellt werden, bis es außergerichtliche Klärungen gibt.“ Und jeder einzelne Schritt belastet jetzt die Justiz.