Hamburg. Der SPD-Politiker ist unscheinbar, zuweilen sogar unsichtbar – die Grünen profitieren. Fünf Thesen zum neuen Senatschef.

Treffen sich zwei Sozialdemokraten in Hamburg auf der Straße. Fragt der eine: „Weißt du, wo Peter ist?“ Darauf der andere: „Nein, aber gesehen hab ich ihn schon.“ Das ist nicht der Einstieg zum schlechten Witz des Tages, sondern eine reale Begebenheit vom 1. Mai.

Am „Tag der Arbeit“ rufen die Gewerkschaften wie üblich zu einem großen Marsch durch die Stadt auf, rund 4500 Menschen trotzen dem Regen. Unter ihnen auch etliche Spitzenvertreter der einstigen Arbeiterpartei SPD: die Parteichefin, der Finanzsenator, der Fraktionschef – und natürlich der Bürgermeister. Doch wo steckt der? Schon wenige Hundert Meter nach dem Start am Bahnhof Ohlsdorf ist Peter Tschen­tscher unauffindbar. Doch, doch, gesehen habe man ihn schon, versichern seine Genossen und raunen ihren Nebenleuten zu: „Weißt du, wo Peter ist?“

Bürgermeisterin Katarina Fegebank und Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD)
Bürgermeisterin Katarina Fegebank und Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) © Magunia | Roland Magunia/Hamburger Abendblatt

So geht das gut eine Stunde lang. Auch am Zielort, dem Platz vor dem Museum der Arbeit in Barmbek, ist der Bürgermeister nirgends zu sehen. Doch schließlich taucht er doch auf, fast unbemerkt hat er sich – mit Outdoorjacke und Basecap optisch fast inkognito – vor die Bühne geschlichen. Wo er war? Hatte sich mit Genossen und Gewerkschaftern unterhalten, irgendwo weiter hinten in dem langen Menschenstrom.

Warum das hier von Bedeutung ist? Nun, Peter Tschentscher ist am 6. Juli 100 Tage im Amt – Zeit also, eine erste Bilanz zu ziehen und zu fragen: Wie schlägt sich der neue Bürgermeister? Was macht er anders als sein Vorgänger Olaf Scholz?

Und da zeigte dieser 1. Mai geradezu sinnbildlich einen großen Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Senatschef auf: Auch Scholz war am Tag der Arbeit stets dabei, aber immer ganz vorn, stets umgeben von einer Entourage aus Personenschützern, Genossen und Gewerkschaftsbossen. Scholz, obwohl an Statur ähnlich schmächtig wie sein Nachfolger und ebenfalls nicht zum großen Auftritt neigend, war dennoch – und nicht nur am 1. Mai – immer unübersehbar, das wandelnde Machtzentrum der Stadt und seiner Partei. Tschentscher ist in diesem Punkt völlig anders. Fünf Thesen zum neuen Präses des Senats.

These I: Der Unscheinbare

Zurückhaltung, Klugheit und Höflichkeit gehören sicher zu den auffallendsten Eigenschaften von Peter Tschen­tscher. Sich in den Vordergrund zu drängen, wie es vielen Spitzenpolitikern eigen ist, behagt ihm nicht. Auch das demonstrativ zur Schau gestellte Selbstbewusstsein seines Vorgängers geht ihm ab. Offen ist indes noch, ob diese zurückgenommene Art für Tschentscher eher zum Nach- oder sogar zum Vorteil wird. Denn immer wieder ist zu beobachten, dass er damit bei vielen Menschen gut ankommt.

Beim ersten großen SPD-Parteitag nach seiner Amtsübernahme Anfang Juni gab Tschentscher Beobachtern allerdings Rätsel auf – denn er blieb auch dort weitgehend unsichtbar. Der neue Senatschef ergriff nicht ein einziges Mal das Wort. Weder drängte es ihn zum Rednerpult, noch wurde er gebeten, seinen Genossen einen Bericht seiner ersten Amtstage oder seiner politischen Pläne zu geben. Stattdessen hörte sich der stille Doktor der Medizin in der vorderen Reihe brav die kämpferischen Reden der neuen Parteichefin Melanie Leonhard und den Bericht des neuen Fraktionschefs Dirk Kienscherf an.

„Der Bürgermeister wird bei anderer Gelegenheit wieder von der Partei um einen Bericht gebeten“, hieß es aus der SPD-Zentrale. Manche hielten Tschentscher zwar zugute, dass es bei dem Parteitag in erster Linie um die Wahl der Parteivorsitzenden ging – und Bürgermeisteramt und Parteiführung nun eben wieder getrennt seien und der Senatschef sich aus Parteidingen etwas mehr heraushalten müsse als zu Zeiten von Olaf Scholz, der ja auch Parteichef war. Andere aber zeigten sich durchaus irritiert, zumal Tschentscher auch wenig bei Gesprächen im Saal oder im Foyer des Bürgerhauses Wilhelmsburg zu sehen war. Während Finanzminister Scholz, der als Gastredner geladen war, und Leonhard im Laufe des Tages ihre Runden drehten und Parteifreunde, Gäste oder Medienleute begrüßten, mied der neue Bürgermeister eine zu intensive Kommunikation mit Parteivolk und Berichterstattern.

Vielleicht aus Enttäuschung? Aus seinem Umfeld heißt es jedenfalls, die Partei habe ihn bei der Erstellung der Tagesordnung schlicht „vergessen“. Auf entsprechende Hinweise aus dem Rathaus habe man im Kurt-Schumacher-Haus nicht reagiert. Das wird dort zwar zurückgewiesen, aber es nährt die Frage: Wer hat eigentlich die Macht in Hamburg? Der Bürgermeister? Oder die SPD-Chefin?

Tschentscher ist durchaus bewusst, dass er mit Blick auf die Bürgerschaftswahl im Frühjahr 2020 viele Termine wahrnehmen, mit den Menschen ins Gespräch kommen und sie mitunter auch an sich heranlassen muss. Denn laut einer Umfrage vom April konnten 38 Prozent der befragten Hamburger mit seinem Namen nichts anfangen.

Dass er gewillt ist, das zu ändern, zeigt er durchaus, zum Beispiel an einem sonnigen Dienstag im April. Der Bürgermeister geht über den Pausenhof der Berufsschule Anckelmannstraße, wo etwa 150 Schüler in Gruppen zusammenstehen, einige grölend, andere Butterbrote mampfend und auf ihren Handys tippend – bis sie den älteren Herrn im dunkelblauem Anzug mit rot-weiß gestreifter Krawatte sehen, der gerade mit Journalisten spricht. Rasch sammelt sich um Tschentscher ein Pulk von Schülern.

Eigentlich spielt der Bürgermeister gerade eine Nebenrolle – als Stargast vorgesehen ist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, er soll die schicken neuen Gebäude der Schule besichtigen, lässt aber auf sich warten. Tschentscher nutzt die Gelegenheit. „Hier ist richtig Spirit“, sagt er in die Kameras. Das klingt gekünstelt, die Azubis könnten nun losprusten – aber sie gucken interessiert und fotografieren. Der Bürgermeister dreht sich zu ihnen um: „Na, wollen wir ein Selfie machen?“ Gut 20 Schüler wollen. Zwei Minuten lang posiert der 52-Jährige neben 20-Jährigen mit gegelten Haaren, als habe er nie etwas anderes gemacht – diese Form der Bürgernähe waren die Hamburger von Olaf Scholz eher nicht gewohnt.

Eva-Maria Tschentscher und Peter Tschentscher Hamburgs mit Ehefrau bei einem Geburtstagsempfang
Eva-Maria Tschentscher und Peter Tschentscher Hamburgs mit Ehefrau bei einem Geburtstagsempfang © picture alliance / | dpa Picture-Alliance /

Ein anderes, bewährtes Format hat Tschentscher hingegen übernommen: Aus „Olaf Scholz im Gespräch“ wurde „Peter Tschentscher im Gespräch“, eine Veranstaltungsreihe, mit der der Erste Bürgermeister in den Wahlkreisen unterwegs ist.

Ortstermin: Schule Surenland in Farmsen. Rund 200 Besucher, meist etwas ältere Semester, kommen an diesem Abend in die Aula der Schule. Nicht schlecht, denn zeitgleich rollen in Russland die WM-Bälle, Spanien und Portugal kämpfen um das Erreichen des Achtelfinales. Tschentscher spricht frei, 20 Minuten Rede zur Einstimmung, dann folgen die Fragen.

„Wie können wir in Zukunft eine Finanzkatastrophe wie jetzt mit der HSH Nordbank vermeiden?“, will ein Besucher gleich zu Beginn wissen. Das ist für den ehemaligen Finanzsenator, der den Verkauf der einstigen Skandalbank mitverhandelt hat, natürlich eine Steilvorlage. „Wir werden nie wieder eine solche Pleite mit einer Landesbank haben“, sichert Tschentscher seinem Publikum zu. Das ist allein schon deswegen wahr, weil Hamburg gar keine Landesbank mehr hat ...

Ob Altersarmut, Oberflächenentwässerung, Leben mit Behinderung oder die Tücken des Erbbaurechts – Tschentscher antwortet ausführlich und lange, wobei er nie vergisst, auch die Erfolge der Senatspolitik mit einzustreuen. Manchmal redet er ein wenig über die Köpfe der Menschen hinweg, etwa wenn ihm beim Thema Altersarmut vor allem die von ihm betriebene Erhöhung des Mindestlohns für städtische Mitarbeiter auf zwölf Euro einfällt, die ja bestenfalls sehr langfristig Altersarmut beseitigen kann.

„Wir können nicht jedes Problem, das wir heute Abend ansprechen, auch heute Abend lösen“, dämpft Tschen­tscher allzu hohe Erwartungen an „unseren Hamburger Vorgesetzten“, als den ihn ein Besucher bezeichnet.

Nur einmal weiß der Bürgermeister gar keine Antwort und reagiert ziemlich perplex. „Mein Nachbar hat eine Hecke, die sechs Meter hoch ist. Warum gibt es in Hamburg als einzigem Bundesland keine Begrenzung der Heckenhöhe?“, fragt eine Frau. Tschentscher schaut ungläubig. „Ist das wirklich so?“, will er wissen. Es stimmt. „Warum das so ist, werde ich mit der zuständigen Senatorin besprechen“, kündigt er dann noch an. Die Frage nach der Hamburger Bauordnung ist dann doch zu speziell ...

Der Besuch in Farmsen-Berne ist eher ein Heimspiel für Tschentscher, der Ton der fragenden Bürger insgesamt so freundlich wie der Beifall, der immer wieder aufbrandet.


These II: Weiter so mit leichten Kurskorrekturen


Und noch etwas zeigte der Abend in Farmsen-Berne: Tschentscher setzt die Politik seines Vorgängers Olaf Scholz im Großen und Ganzen fort. „Wir müssen Wohnungen bauen, bauen, bauen“, sagte Tschentscher und wiederholte ein scholzsches Mantra. Apropos Wachstum der Stadt: „Wachstum ist nichts Negatives. Das ist sehr gut machbar, wenn wir positiv denken und aktiv planen.“ Scholz hätte es kaum anders ausgedrückt. „Irgendwann wird das Wachstum ein Ende haben“, fügte Tschentscher allerdings noch hinzu.

Beim zweiten Thema, das dem Sozialdemokraten besonders wichtig ist – der Verkehrspolitik –, setzt er wie Scholz vor allem auf den Bau neuer U- und ­S-Bahn-Linien. „Wenn wir die U-Bahn unterirdisch bauen, bleibt mehr Platz für die anderen Verkehrsteilnehmer – nicht nur für diejenigen, die mit dem Auto fahren“, sagte Tschentscher.

Neue Schwerpunkte setzt Tschen­tscher als Bürgermeister dagegen nur zurückhaltend. Die Erhöhung des Mindestlohns in städtischen Unternehmen auf zwölf Euro war so einer, entsprach allerdings der schon von Scholz eingeleiteten Linie, dass die Menschen von ihrer Arbeit auch leben können müssen.

Ein echter Coup gelang dem neuen Bürgermeister, als er in seiner ersten Regierungerklärung vor der Bürgerschaft den Neubau der Asklepios Klinik Altona ankündigte. So überraschend das selbst für Insider war, so ernst war es doch gemeint – die Planungen für das Großprojekt laufen jetzt an.

Eine zweite vermeintliche Kursbestimmung aus der Regierungserklärung, die Ankündigung, die neue U-Bahn-Linie 5 werde über den Lokstedter Siemers­platz führen, erwies sich hingegen als Fauxpas. Das verstanden viele Zuhörer als klare Entscheidung in einer bis dahin offenen Frage. Denn zuletzt war stets auch eine zweite Variante im Spiel gewesen, nach der die U 5 ein gutes Stück südlich des Siemersplatzes gen Westen abzweigen könnte. Kurz darauf stellte sich heraus, dass der neue Bürgermeister in dieser Frage schlicht nicht sattelfest gewesen war und sich vertan hatte – die Frage des Streckenverlaufs blieb weiter offen.

Für Irritationen sorgte Tschen­tscher auch beim ersten offiziellen Treffen mit dem schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Daniel Günther (CDU). Es wäre doch gut, wenn ein großer Teil der 300.000 Einpendler aus dem Umland direkt nach Hamburg zöge, so Tschentscher. Mit dieser Aussage irritierte er nicht nur den Kieler Ministerpräsidenten, der sich wenig erfreut über die offensive Abwerbung von Steuerzahlern zeigte. Tschentscher bestärkte mit diesem Vorschlag auch die zunehmenden Ängste mancher Hamburger vor einem zu schnellen Wachstum der Stadt.

Unzweifelhaft sieht Tschentscher, der als Labormediziner am UKE viele Jahre im wissenschaftlichen Umfeld tätig war, Wissenschaft und Forschung als Topthema für Hamburgs Zukunft. Das betonte er in seiner Regierungserklärung gleich zu Beginn – und hängte die Latte hoch: „Wir werden die innovativsten Köpfe aus Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft nach Hamburg holen.“ Den Hochschulen komme dabei eine entscheidende Rolle zu.

Dass er es ernst meint, wollte Tschentscher mit dem Entwurf des neuen Doppelhaushalts zeigen, den er Mitte Juni präsentierte: Danach soll der Etat der Wissenschaftsbehörde insgesamt um fast zehn Prozent steigen. Nach Jahren geringer Aufwüchse, die den Hochschulen etwa wegen der zugleich gestiegenen Personalkosten kaum etwas brachten, sollen die Budgets „deutlich“ angehoben werden – um welche Summen, blieb aber noch offen.

Wissenschaftliche Baustellen gibt es dennoch reichlich: Etwa die seit Langem darbende HafenCity Universität (HCU), wo zudem das Präsidium und ein erheblicher Teil der Professoren vor allem über die Amtszeitverlängerung der umstrittenen Kanzlerin streiten, was in mehreren öffentlichen Protesten eskalierte. Oder die Universität Hamburg, die zwar etwa in Physik, Klimatologie und Manuskriptstudien mit Spitzenforschung punktet, wo es aber im akademischen Mittelbau brodelt, weil 160 Wissenschaftler von sogenannten Drittmittelbefristungen betroffen sind und mehr als ein Dutzend Forscher schon gehen mussten. In beide Konflikte hat Tschentscher sich bislang nicht erkennbar eingemischt, sondern dies Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) überlassen.

Stattdessen verkündete er für seine Verhältnisse recht forsch, das Uniklinikum Eppendorf (UKE) solle sich zu einem „Hochleistungszentrum der wissenschaftlichen Medizin in Nordeuropa entwickeln“. Die schlechte Nachricht, dass die Klinik 2017 erstmals seit sieben Jahren mit einem Minus abschloss, überließ er dagegen auch Fegebank.

Auch ein weiterer Schwerpunkt leitet sich zumindest zum Teil aus seiner eigenen Biografie ab: „Ich halte das Leben im Alter für ein eigenständiges und wichtiges Thema“, sagte der gelernte Arzt mehrfach. Hamburg tue ja viel für Kinder, Jugendliche, Studenten und Familien. Aber: „Die ältere Generation soll auch gut leben können in Hamburg.“

Ähnlich wie im Bereich Wissenschaft hatte auch diese Ansage mit Blick auf den neuen Haushalt Erwartungen geweckt. Tatsächlich ist auch eine kräftige Steigerung der Ausgaben für die Seniorenarbeit in den Bezirken geplant, die Förderung altersgerechter Wohnformen wird gestärkt, und die Wohn-Pflegeaufsicht bekommt mehr Stellen.

Den erhofften großen Wurf sehen Sozialverbände und Gewerkschaften darin allerdings nicht. Besonders enttäuscht zeigten sie sich, dass das Projekt „Hamburger Hausbesuche“ noch nicht, wie ursprünglich angekündigt, allen älteren Hamburger Bürgern zugutekommen soll, sondern zunächst nur testweise in zwei Bezirken startet.

Eine kleine, aber möglicherweise wichtige Neujustierung hat Tschen­tscher beim Thema Rote Flora vorgenommen: Scholz hatte infolge der Ausschreitungen beim G-20-Gipfel, zu denen die Besetzer des ehemaligen Theaters geradezu aufgerufen hatten, ernste „Konsequenzen“ angekündigt. Worin die denn bestehen könnten, blieb jedoch bis zu seinem Abschied im März unklar. Tatsächlich hatte Rot-Grün die ganze Zeit darauf gesetzt – und zumindest unter der Oberfläche auch darauf hingewirkt –, dass die Rotfloristen die Zeichen der Zeit erkennen und endlich der Gewalt abschwören. Diesen Kurs hat Tschentscher nun auch quasi offiziell abgesegnet: Angesichts immer neuer Forderungen von CDU und AfD, das besetzte Gebäude zu räumen, warnte er von einem „Zündeln“ und verwies darauf, dass die Stadt sich bis kurz vor dem G-20-Gipfel mit der Flora beinahe „versöhnt“ habe. Mit dieser Haltung weiß er eine Mehrheit der Hamburger hinter sich, die einer Umfrage zufolge die Räumung ablehnen.


These III: Bundespolitisch noch ein Leichtgewicht

Ein Reisemuffel wie sein Vorgänger ist Peter Tschentscher nicht gerade. Der Bürgermeister startete seine Auslandstouren Ende Mai mit einer gut eintägigen Visite im schwedischen Malmö, um die Bindungen zwischen der Øresund-Region und der Metropolregion Hamburg zu stärken. In der Partnerstadt Chicago war Tschentscher auch schon. Und Mitte Juli steht bereits die nächste Delegationsreise an – ins französische Marseille, ebenfalls Partnerstadt Hamburgs.

Auch bei seinen außenpolitischen Aktivitäten legt der Senatspräses Zurückhaltung an den Tag. Tschentscher reist mit kleinem Gefolge, hört viel zu und nimmt Anregungen auf. Auch auf internationalem Parkett gilt, dass Tschentscher einen eher vorsichtigen Start hingelegt hat.

Das politische Gewicht eines Hamburger Bürgermeisters und seine Durchsetzungsfähigkeit bemessen sich nicht zuletzt nach dem Einfluss, den er auf Bundesebene hat. Scholz war als langjähriger stellvertretender SPD-Bundesvorsitzender, der schon einmal Bundesminister war, in Berlin bestens vernetzt und wusste das auch zum Vorteil für die Stadt zu nutzen. Tschentscher muss sich dieses Feld erst erobern. Den Vorsitz der Finanzministerkonferenz der Länder musste er abgeben. Aber der Kampf gegen eine die Mieter belastende Grundsteuerreform bleibt sein Thema auch als Präses des Senats.

Ein „Außen“-Amt hat Tschentscher von seinem Vorgänger übernommen: Er ist Bevollmächtigter des Bundes für die deutsch-französische kulturelle Zusammenarbeit. Tschentscher hat den französischen Bildungsminister Jean-Michel Blanquer schon zum Antrittsbesuch in Paris getroffen und eine Bildungskonferenz beider Länder im Rathaus geleitet. Allerdings hat der Kulturbevollmächtigte keinen allzu großen politischen Einfluss. Der Posten hilft aber, den wichtigen Blick über den Tellerrand des Stadtstaats hinaus zu richten.


These IV: Der grüne Anbau wächst

Für die Hamburger Grünen bedeutete der Wechsel von Scholz zu Tschentscher zunächst einen Gewinn an Freiheit. Während Scholz nach Berichten führender Grüner nach nächtelangem Aktenstudium meist mit feststehenden Positionen in die Gespräche mit dem Koalitionspartner gekommen sei, höre Tschentscher sich stets die Einschätzungen aller Beteiligten an, bevor er sich eine Meinung bilde.

Die Grünen nutzten die neue politische Beinfreiheit gleich weidlich aus: Justizsenator Till Steffen sprach sich zum Ärger der SPD-Stadtentwicklungssenatorin Dorothee Stapelfeldt im Abendblatt für Verschärfungen beim Mieterschutz aus – auf Kosten von Bauherren und Vermietern. Es passte auch, dass die vom grünen Umweltsenator Jens Kerstan verhängten ersten Dieselfahrverbote der Republik in die Regierungszeit Tschentschers fielen – auch wenn Scholz diese noch abgenickt hatte.

Beim aktuellen Streit über den Rückkauf der Fernwärme wird sich zeigen, ob Tschentscher den Grünen auch in der Energiepolitik stärker beispringt als sein Vorgänger. Bei dem Streit mit Vattenfall geht es nicht nur um den Preis für den Rückkauf des Netzes, sondern auch um die Grundfrage, wie viel teurer die Fernwärme für die Kunden durch die Umstellung auf erneuerbare Energien wird. Und es geht auch um den Anschluss des Kohlekraftwerks Moorburg. Der würde die Preise wohl eher niedrig halten – was vor allem der SPD mit Blick auf die Mieter extrem wichtig ist. Die Nutzung des „Klimakillers Kohle“ für die Wärmeerzeugung ist für die Grünen aber politisches Zyankali. Mancher unkt bereits, an dieser Frage könne sogar noch die Koalition zerbrechen.

Bei alldem sind auch nicht alle Grünen durchweg glücklich mit der Offenheit des neuen Bürgermeisters. Die habe nämlich bisweilen auch einen entscheidenden Nachteil, heißt es: Anders als bei Scholz wisse man bei Tschentscher bisweilen wochenlang nicht, was er denn nun wolle.


These V: Konkurrenz im eigenen Lager

Sieben Jahre lang war die Hamburger Politik quasi eine One-Man-Show: Scholz war als erster Bürgermeister gleichzeitig auch SPD-Chef und dank seiner Vorgeschichte (Bundesminister, Befrieder der einst zerstrittenen Landespartei) und seiner Anfangserfolge (Abschaffung von Kita- und Studiengebühren, Beilegung des Elbphilharmonie-Konflikts) mit einer Aura der Unfehlbarkeit umgeben.

Das Olympia-Aus und der G-20-Gipfel hatten Scholz’ Ansehen zwar bereits beschädigt, doch erst mit dem Amtswechsel geriet das gesamte Machtgefüge in Bewegung: Als „natürlicher“ und erwarteter Nachfolger galt eigentlich der langjährige SPD-Fraktionschef Andreas Dressel, der jedoch wegen seines familiären Hintergrunds (drei noch recht kleine Kinder und eine pflegebedürftige Mutter) verzichtete. Da auch Sozialsenatorin Melanie Leonhard mit Rücksicht auf ihren kleinen Sohn absagte, kam Tschentscher zum Zug. Dressel übernahm dessen Amt als Finanzsenator und Leonhard den Parteivorsitz.

Positiv betrachtet könnte man sagen: Macht und Last, bislang auf Scholz konzentriert, ruhen nicht mehr allein auf den Schultern des Bürgermeisters, sondern auch auf starken Mitspielern. Im negativen Fall könnten diese allerdings auch zu Gegenspielern werden. So hatte Dressel (43) seine Absage seinerzeit ausdrücklich mit der Feststellung verknüpft, dass er sich schon vorstellen könne, Bürgermeister zu werden – was nicht bei allen Genossen gut ankam. Und auch Leonhard (40) schließt das nicht für alle Zeiten aus.

Zwar haben sich führende Sozialdemokraten dafür ausgesprochen, mit Tschentscher als Spitzenkandidat ins Rennen zu gehen. Sollten mit Blick auf die Wahl 2020 die Umfragen oder die Stimmung in den Keller gehen, dürfte die Partei aber eine Diskussion über den richtigen Kandidaten kaum unter dem Deckel halten können.

Dressel und Leonhard gelten zwar als absolut loyal und würden eine Personaldebatte kaum selbst befeuern. Doch zumindest die SPD-Chefin, der Übervater Scholz einst bescheinigt hatte, sie verfüge über „die nötige Härte und Durchsetzungsfähigkeit“, ist jetzt schon der heimliche Star der Hamburger Sozialdemokraten. Als sie auf dem Parteitag im März über ihren zähen Aufstieg aus kleinen Verhältnissen zur Senatorin und künftigen Parteichefin erzählte, wurde sie begeistert gefeiert wie selbst Scholz zu besten Zeiten nicht.

Dieses Talent, die Herzen der Bürger und Genossen im Sturm zu erobern, hat Peter Tschentscher bislang nicht erkennen lassen. Aber vielleicht braucht er es ja gar nicht – und überzeugt die Hamburger auf seine zurückhaltende Art.