Hamburg. Der Bürgermeister nimmt Abschied. Vor ihm haben wenige in dieser Stadt so viel Macht auf sich konzentriert. Was war, was bleibt?
Am Ende schien er der Geheimniskrämerei selbst überdrüssig zu werden. Fast einen Monat lang – seit dem Abschluss der Koalitionsverhandlungen in Berlin – sprachen alle Welt und sowieso ganz Hamburg darüber, dass der Erste Bürgermeister Olaf Scholz wohl Finanzminister und Vizekanzler der nächsten Großen Koalition wird. Nur einer tat so, als ob die Antwort auf diese nicht ganz unwichtige Frage in den Sternen stehen würde: Olaf Scholz.
Mal um Mal gab der 59 Jahre alte Sozialdemokrat stoisch ausweichende oder gar keine Antworten zu seiner beruflichen Zukunft und verwies auf einen vagen Zeitplan, was für einen Mann seines Ehrgeizes und Gestaltungswillens schon eine an Selbstverleugnung grenzende Herausforderung ist. Doch am Dienstag dieser Woche immerhin erlaubte Scholz angesichts des bevorstehenden Endes der Scharade Journalisten einen der seltenen Einblicke in seine Seelenlage. „Ich bin erleichtert, wenn dann alles gesagt werden kann, was zu sagen ist“, sagte der Bürgermeister in der Landespressekonferenz.
Scholz versuchte es dann noch mit einem Witz, was bei ihm immer ein gewisses Risiko birgt. Es sei doch „eine merkwürdige Vorstellung“, dass der kommissarische SPD-Vorsitzende – bekanntlich auch Scholz – mit dem Ersten Bürgermeister ein Telefongespräch führen müsse ... Das sollte wahrscheinlich heißen: um ihn zu fragen, ob er bereit sei, Finanzminister zu werden. Der etwas verquaste, aber feinsinnige Scholz-Humor eben. Viel mehr wusste man danach auch nicht.
Ein mit allen Wassern gewaschener Politiker
Es hieße, diesen nach Jahrzehnten in der Verantwortung mit allen Wassern gewaschenen Politiker zu unterschätzen, wenn man Scholz in dieser Situation nur als Getriebenen sieht. Nicht auf Fragen zu antworten, wenn er – warum auch immer – nicht antworten will, gehört zur Grundstruktur dieses Politikers. Im Zweifel heißt das: lieber schweigen als Blödsinn reden. Das wirkt wenig verbindlich in einer von Medien geprägten politischen Landschaft, sondern eher schroff und bisweilen sogar arrogant. Es soll andererseits in jüngster Zeit Politiker namentlich in der SPD gegeben haben, denen ihre Schwatzhaftigkeit und zu frühe Festlegungen zum Verhängnis wurden ... Scholz hat das aus kurzer Distanz hautnah miterlebt.
Ein Blick zurück hilft dabei zu verstehen, wie Scholz tickt: Als die schwarz-grüne Koalition 2010 nach dem Rücktritt von Bürgermeister Ole von Beust (CDU) und dem verlorenen Volksentscheid über die Primarschule und immer brüchiger wurde, war Scholz bereits mehrere Monate SPD-Landesvorsitzender – zum zweiten Mal übrigens. Es gab eigentlich keinen anderen Sozialdemokraten, der als Herausforderer des glücklos agierenden Beust-Nachfolgers Christoph Ahlhaus (CDU) infrage kam als Scholz. Doch nie hat er sich auch nur einen Hinweis auf seine Ambitionen entlocken lassen. Bis zu jenem Moment, als die Grünen Ende November das Bündnis abrupt platzen ließen und Neuwahlen vor der Tür standen.
2010 gab es Parallelen zur jetzigen Lage
„Ich will Hamburger Bürgermeister werden“, sagte Olaf Scholz nur wenige Stunden später und fügte trocken lakonisch hinzu: „Kandidaturen müssen dann angemeldet werden, wenn es so weit ist. Jetzt ist es so weit.“ Die Parallelen zu seiner jetzigen Lage drängen sich durchaus auf.
Überhaupt sind die Situationen damals wie heute verblüffend ähnlich. Die Hamburger SPD war Ende der Nullerjahre eine infolge des Stimmenklaus traumatisierte, an sich selbst zweifelnde und letztlich ratlose Partei, die nur noch auf eine große Vergangenheit blicken konnte. Auf Bundesebene geht es für die SPD heute – man muss es so deutlich sagen – um die Existenz, mindestens als Volkspartei. Für einen Politiker, der erkennbare Schwächen in der öffentlichen Kommunikation hat, der kein begabter Redner und kein „Menschenfänger“ ist, wie es gern heißt, sind solche „Fünf vor zwölf“-Lagen vermutlich wie geschaffen, um sich unentbehrlich zu machen.
Für Berlin gilt: Nach dem Abgang von Martin Schulz und Sigmar Gabriel ist Scholz neben der Fraktionschefin und designierten Parteichefin Andrea Nahles das Schwergewicht an der Parteispitze. Ob den beiden die große Trendwende für die SPD gelingt, steht dahin.
Scholz wird eher respektiert als verehrt
Für die Hamburger SPD war Scholz tatsächlich der Retter, dabei ist es gar nicht sicher, ob er unter anderen Umständen jemals Spitzenkandidat seiner Partei und damit letztlich Bürgermeister geworden wäre. Noch heute ist er in der Landes-SPD – trotz aller Erfolge, die die Genossen ihm vor allem zu verdanken haben – mehr respektiert als verehrt oder gar geliebt. Wahr ist allerdings auch, dass es nie ein Karriereziel des Bundespolitikers und früheren Bundesarbeitsministers Scholz war, Hamburger Bürgermeister zu werden.
Aber die Chance, das Ruder zugunsten der SPD angesichts einer in der Regierungsverantwortung ausgelaugten CDU herumzureißen, hat Scholz gereizt, und er hat sie konsequent genutzt. Er hat die eigenen Stärken indirekt geschickt ins Spiel gebracht, indem er die offenkundigen Schwächen des politischen Gegners attackierte. „Der schwarz-grüne Senat ist nicht mehr in der Lage, die Geschicke dieser Stadt in Ordnung zu halten. Wir haben festgestellt, dass viele Probleme ungelöst geblieben sind“, sagte Scholz im nüchternen Stil eines politischen Buchhalters.
Das „ordentliche Regieren“ wurde zum zentralen Wahlkampfversprechen. Viele Hamburger hatten die Sprunghaftigkeit und die häufigen Personalwechsel der zu Ende gehenden Von-Beust-Ära satt. Und wer konnte den biederen, auf Verlässlichkeit und hanseatische Nonchalance getrimmten neuen Regierungsstil glaubwürdiger vertreten als eben jener Scholz, dem die „Tagesthemen“-Moderatorin Carmen Miosga am Abend seines Wahltriumphs am 20. Februar 2011 attestierte, er wirke „so euphorisch wie ein Butler zur Tea Time“?
„Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie“
Aus der Opposition heraus mit 48,4 Prozent die absolute Mehrheit zu holen – das ist eine Leistung, die nicht nur in Hamburg einmalig ist. Manch anderem wäre der Erfolg vermutlich zu Kopf gestiegen. Scholz nutzte den Erdrutschsieg, um zunächst seine Macht in der notorisch aufmüpfigen Partei zu zementieren und damit die Grundlage für die Umsetzung seiner politischen Agenda zu legen.
„Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie“, hatte er seinen Parteifreunden schon bei seiner Wahl zum Landesvorsitzenden 2009 zugerufen, was viele Genossen zu Recht als Drohung empfanden. Scholz hat seine Partei dauerhaft diszipliniert, das lässt sich rückblickend eindeutig feststellen.
Zwei Vorgänge sind dafür entscheidend: Scholz hat die schwelende innerparteiliche Auseinandersetzung über die Verantwortung für den Stimmenklau und die Folgen beendet. Er beauftragte den Harburger Sozialdemokraten und Rechtsanwalt Harald Muras, die skandalösen Vorgänge politisch aufzuarbeiten, die den früheren Parteichef Mathias Petersen um die Spitzenkandidatur bei der Bürgerschaftswahl 2008 gebracht hatten. Der Muras-Bericht ließ Petersen Gerechtigkeit widerfahren, was die Lage tatsächlich weitgehend befriedete.
Öffentliche Debatte ist unter ihm verkümmert
Der zweite Punkt ist in seiner Tragweite kaum zu überschätzen: Scholz durchbrach nach seiner Wahl zum Ersten Bürgermeister eine jahrzehntelange Konvention zur Machtbalance in der Hamburger SPD. Das sogenannte eiserne Dreieck sah vor, dass Bürgermeisteramt, Landespartei- und Fraktionsvorsitz in getrennten Händen liegen. Olaf Scholz blieb als Bürgermeister aber Landesvorsitzender – er ist es bis heute –, zähmte damit seine Partei und marginalisierte die Konflikte zwischen dem linken und dem Mitte-rechts-Flügel seiner Partei. Der Preis ist ein Landesverband, in dem die offene, die öffentliche Debatte während der Scholz-Jahre verkümmert ist.
„Leadership“ – Scholz benutzt lieber das englische Wort für Führung oder Führerschaft – ist ein zentraler Begriff für das Verständnis dieses Politikers. Von Beginn seiner Amtszeit und bis heute ist er die dominante Figur der Landespolitik. Früher mögen Bürgermeister „Erste unter Gleichen“ gewesen sein. Scholz hat die in der Verfassung seit 1996 festgeschriebene Richtlinienkompetenz des Ersten Bürgermeisters konsequent genutzt.
Die Senatoren – ob im ersten Kabinett Scholz oder seit 2015 im rot-grünen Bündnis – stehen in der zweiten Reihe. Im Gegenzug gab es nie ein Wort der öffentlichen Kritik von Scholz an einem Senatsmitglied oder gar eine Distanzierung. Allenfalls „Klarstellungen“, wie im Fall von Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne), der bereits 2016 Fahrverbote für Dieselautos ins Spiel gebracht hatte, als Scholz sie noch vehement ablehnte.
Sein Führungsanspruch schaffte Distanz
Wie stark Scholz den Führungsanspruch verinnerlicht hatte, zeigt exemplarisch sein doch ziemlich herablassend wirkender Satz zu Beginn der rot-grünen Koalitionsverhandlungen Februar/März 2015. „Es geht, glaube ich, nicht um einen Umbau, sondern einen Anbau“, ließ Scholz die Grünen wissen.
Er schaffte Distanz durch seinen Führungsanspruch. Aber dieser Bürgermeister kümmerte sich auch nicht um alles und ließ manches laufen. Und er delegierte bisweilen erfolgreich: Das war vor allem bei Volksinitiativen der Fall. Seit 2015 waren die Fraktionschefs Andreas Dressel (SPD) und Anjes Tjarks (Grüne) mehrfach im Einsatz, um in Verhandlungen (teure) Kompromisse zu erzielen, die letztlich einen Volksentscheid vermieden, der die Stadt möglicherweise noch teurer gekommen wäre.
Scholz’ Form der ungeschminkten Machtausübung hat ihm nicht nur bei vielen Hamburgern Respekt eingebracht, die sich einen „starken“ Bürgermeister wünschen. Er hat diese Macht immer genutzt, um seine politischen Ziele umzusetzen. Scholz’ pragmatischem Politikansatz entspricht, dass er sich früh für die Verbesserung der konkreten Lebensverhältnisse der Menschen, gerade der Familien, eingesetzt hat.
Investitionen in Kita- und Ganztagsausbau
So fällt in Scholz’ Amtszeit der massive Kita-Ausbau und die Einführung der Gebührenfreiheit. Stichwort: Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hamburg ist jedenfalls unter den westdeutschen Ländern Vorreiter, und der aktuelle Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD sieht nun die bundesweite Übernahme des Hamburger Wegs vor. Ähnlich massiv hat der Scholz-Senat in den Ganztagsschulausbau investiert. Inzwischen gibt es praktisch ein flächendeckendes Angebot, das im Kernbereich bis 16 Uhr auch kostenlos ist. Die hohen Auslastungsquoten sprechen für sich.
Die CDU hat einst den Slogan von Hamburg als der wachsenden Stadt erfunden. Scholz war der politische Handwerker, der diesen Ansatz detailverliebt umgesetzt hat. Für ihn sind die Metropolen (oder Metropolregionen) nicht nur Laboratorien der Zukunft, sondern attraktive Lebensorte für immer mehr und häufig gut ausgebildete Menschen. Geradezu mantramäßig hat der Sozialdemokrat wiederholt, dass in der Stadt endlich wieder in großem Umfang Wohnungen gebaut werden müssen.
Ein großes Ziel: 10.000 Wohnungen pro Jahr
In erster Linie mit seinem Namen wird das ehrgeizige Wohnungsbauprogramm verbunden bleiben, das er 2011 gestartet hat. Zunächst 6000, inzwischen 10.000 Wohneinheiten pro Jahr – das sind die Zielvorgaben, die bislang auch eingehalten werden. Ein Schlüssel für den Erfolg war das „Bündnis für das Wohnen in Hamburg“, das er bereits 2011 mit der Wohnungswirtschaft, der städtischen SAGA GWG und den Mietervereinen schloss. Die Kehrseite: Mehr Wohnungsbau kostet mehr freie Flächen. Inzwischen hat sich eine Volksinitiative gegen den Flächenfraß und die Vernichtung von Grün gegründet.
Scholz hat statt auf Verbote stets auf technologischen Fortschritt in der Umweltpolitik gesetzt. Er lehnte 2015 den grünen Wunsch nach dem Bau einer Stadtbahn rigoros ab und setzte dagegen ein anfangs hoch umstrittenes Busbeschleunigungsprogramm durch, das die Menschen zum Umstieg auf den Öffentlichen Nahverkehr bewegen soll.
Die Hochbahn soll ihre Busflotte – immerhin 1500 Wagen – bis 2030 komplett auf Elektroantriebe umstellen. Diese ehrgeizige „Bus-Revolution“ hat Scholz ebenfalls ausgerufen. Auch der Bau der neuen U-Bahnlinie U 5 von Bramfeld über den Hauptbahnhof nach Osdorf trägt seine Handschrift.
In der Flüchtlingskrise delegierte er Aufgaben
Aber der dominante, von manchen auch als autoritär empfundene Regierungsstil führte Scholz auch an Grenzen. Auf die Flüchtlingskrise 2015 / 16 mit der Folge einer massiven Zuwanderung auch nach Hamburg reagierte der Bürgermeister mit dem Programm Expresswohnungsbau für Flüchtlinge. Die großen Neubaukomplexe wurden schnell als Massenunterkünfte mit der Gefahr der Gettobildung kritisiert. Die Volksinitiative „Gute Integration“ sammelte innerhalb weniger Tage Tausende Unterschriften gegen das Projekt.
Scholz ließ sich vor allem vom grünen Koalitionspartner überzeugen, nicht mit dem Kopf durch die Wand zu wollen. Und Scholz delegierte. Die beiden Fraktionschefs Dressel und Tjarks verhandelten mit der Initiative und konnten am Ende einen kleinteiligen Kompromiss mit zahlreichen sogenannten „Bürgerverträgen“ für die einzelnen Stadtteile erzielen. Ein Volksentscheid mit der Gefahr einer Polarisierung des Themas und der Stimmungsmache gegen Flüchtlinge generell wurde so vermeiden.
Hohe Steuereinnahmen machten vieles möglich
Ob Kita- und Ganztagsschulausbau, teure Kompromisse mit Volksinitiativen oder die Unterbringung der Flüchtlinge samt Folgekosten – möglich wurde das alles nicht zuletzt, weil die Scholz-Jahre im Rathaus eine Phase der Hochkonjunktur mit der Folge sprudelnder Steuereinnahmen waren.
Zwar hatten Scholz und sein Finanzsenator Peter Tschentscher (SPD) das jährliche Ausgabenwachstum langfristig auf knapp ein Prozent begrenzt, um allen Begehrlichkeiten der Fachsenatoren einen Riegel vorzuschieben. Wahr ist aber auch, dass der Finanzrahmen des Stadtstaats mehrfach im Laufe der vergangenen Jahre um insgesamt mehrere Hundert Millionen Euro erweitert wurde. So ließ sich manch teures Vorhaben finanzieren ...
Mit viel Geld hatte auch der wohl spektakulärste Coup des Olaf Scholz zu tun. Der Sozialdemokrat machte das fast gescheiterte Projekt Elbphilharmonie nach Monaten des Baustillstands wieder flott. Scholz setzte seine Kompetenz und Erfahrung als Rechtsanwalt und geübter Verhandler ein, um zu einem Kompromiss mit der Baufirma Hochtief und den Architekten über die Fertigstellung des Wahrzeichens zu kommen.
Mehr noch: Vertraglich festgelegt war ein Termin für die Eröffnung, der sogar eingehalten wurde. 200 Millionen Euro kostete die Einigung die Stadt noch einmal. Doch insgesamt war große Erleichterung zu spüren, dass die Elbphilharmonie nicht als Bauruine zum Wahrzeichen für die Unfähigkeit der Politiker wurde. Und Scholz hatte seinen Ruf als Macher gefestigt und konnte süffisant lächelnd auf die Probleme der Berliner mit ihrem Flughafen verweisen.
Hamburg wurde auf der Weltkarte deutlich präsenter
Für Scholz ist die Elbphilharmonie ein Glücksfall, blickt doch die Welt ihretwegen auf Hamburg. Denn darum ging es diesem Bürgermeister nicht zuletzt: seine Stadt auf der Weltkarte sichtbarer zu machen. Mit diesem Bürgermeister hielt Internationalität im Rathaus in einem Umfang Einzug, der bei den meisten seiner Vorgänger nicht üblich war.
Ablesbar war dieses Bemühen etwa bei den Ehrengästen des jährlichen Matthiae-Mahls. Vor der Brexit-Abstimmung 2016 holte Scholz den damaligen britischen Premier David Cameron an die Elbe. Und im Jahr darauf war es der kanadische Premier Justin Trudeau, der im Rathaus ein Zeichen der Weltoffenheit gegen US-Präsident Donald Trump setzte.
Doch gerade das Bemühen um weltweite Aufmerksamkeit bescherte Scholz auch schmerzhafte Rückschläge und Niederlagen. Die gescheiterte Olympia-Bewerbung im November 2015 und die im Grunde nach wie vor unvorstellbaren Gewaltexzesse während der G-20-Tage im Juli 2017 sind die beiden großen Makel seiner Amtszeit.
Beim Olympia-Aus ließ er es an Empathie fehlen
Das Referendum über die Ausrichtung der Olympischen Spiele ging zwar nur knapp verloren: 51,9 Prozent der Hamburger votierten gegen das Sport-Großereignis. Scholz muss sich aber vorwerfen lassen, dass er selbst entscheidenden Anteil an dem aus seiner Sicht negativen Ausgang hatte.
Sein im Oktober 2015 vorgestellter Finanzplan für die Spiele sah für Hamburg Ausgaben in Höhe von 1,2 Milliarden Euro vor. Der Bund sollte 6,2 Milliarden Euro bereitstellen. Das Dumme war, dass es bis zum Referendum keine Zusage des Bundes gab. Auf ein derart riskantes finanzielles Abenteuer mochten sich die Hamburger dann doch lieber nicht einlassen.
„Wir hatten uns ein anderes Ergebnis gewünscht“, sagte Scholz mit völlig unbewegter Miene zum Olympia-Aus. Die Reaktion war ein Paradebeispiel für die Affektkontrolle dieses Bürgermeisters in der Öffentlichkeit. Gefühle zu zeigen, das ist seine Sicht der Dinge, könnte als Schwäche ausgelegt werden. Nicht nur viele Sportler, die eben noch mit Scholz für das Jahrhundertprojekt gekämpft hatten, waren angesichts der fehlenden Empathie des Bürgermeisters sehr enttäuscht.
G20-Exzesse katapultierten ihn fast aus dem Amt
Die Tage des G-20-Gipfels eineinhalb Jahre danach waren die große Zäsur für den Bürgermeister. Scholz zeigte in dem verzehrenden Amt mit unzähligen Grußworten und Empfängen, denen er sich mit Ausdauer widmete, mit dem Wechselspiel zwischen kommunaler, Landes- und Bundesebene erstaunlich wenig Abnutzungserscheinungen.
Die Gewaltexzesse in jenen heißen Julitagen katapultierten den Erfolgsverwöhnten dann fast aus dem Amt. Im Abendblatt-Interview räumte der Bürgermeister später ein, dass er sehr ernsthaft über einen Rücktritt nachgedacht hatte.
Es war „sein“ Gipfel: Scholz hatte im Alleingang – weder seine Partei noch der Koalitionspartner von den Grünen waren beteiligt – Kanzlerin Angela Merkels (CDU) Bitte entsprochen, das Treffen der Staats- und Regierungschefs in Hamburg auszurichten. Von Anfang an hatte es massive Bedenken gegeben, unter anderem gegen den Konferenzort Messehallen direkt neben der Hochburg der linksextremen Szene, dem Schanzenviertel.
Und trotz europaweiter Mobilisierung gewaltbereiter Autonomer hatte Scholz kurz vor dem Gipfel wider alle sicherheitspolitische Vernunft eine „Sicherheitsgarantie“ für alle Bürger und Gäste gegeben. Ausgerechnet dieses eine Mal hatte der sonst so bedächtig und abwägend formulierende Scholz den Mund schlicht zu voll genommen.
Die Bitte um Entschuldigung kam erst spät
In den Wochen danach wirkte der Bürgermeister wie paralysiert. Wer ihn kennt, weiß, dass ihn die Bilder der Gewalt nicht loslassen. Aber ebenso typisch für Scholz: Vor dem Sonderausschuss der Bürgerschaft, der die Hintergründe für die Ausschreitungen und die Verantwortlichkeiten klären will, beharrte der Sozialdemokrat darauf, dass Politik, Geheimdienste und Polizei im Vorfeld des Gipfels praktisch keine Fehler gemacht hätten, von der verhängnisvollen „Sicherheitsgarantie“ in seinem Fall einmal abgesehen.
Nur mühsam und unter Aufbietung großer Energie gelang es dem Umfeld des Bürgermeisters, ihn davon zu überzeugen, die Hamburger in seiner Regierungserklärung vor der Bürgerschaft wenige Tage nach dem G-20-Chaos um Entschuldigung zu bitten. Fehler zuzugeben gehört auch nicht zum Instrumentenkasten des Politikers Scholz.
Der G-20-Gipfel bleibt eine offene Wunde – für die Stadt und für den Politiker Scholz. Viele Hamburger nehmen ihm übel, dass er ihnen dieses Ereignis zugemutet hat. Dafür sprechen das relativ schlechte Abschneiden der SPD bei der Bundestagswahl am 24. September 2017 wie auch jüngste Umfragen.
Hamburg hat von Scholz’ Engagement profitiert
Trotzdem darf nicht übersehen werden, dass Hamburg in den vergangenen sieben Jahren davon profitiert hat, dass das Engagement dieses Bürgermeisters stets weit über die Stadtgrenzen hinausreichte. Wie keiner seiner Vorgänger ist Scholz in Berlin vernetzt und dort präsent. Hamburgs Gewicht in Berlin ist gewachsen, auch weil Scholz seine Senatoren aufforderte, mit Bundesratsinitiativen bundespolitisch aktiv zu werden.
Vor allem hat Scholz aber als Finanzexperte und gewiefter Verhandler entscheidend dazu beigetragen, mit der Neuordnung der Bund-Länder-Finanzen und des Länderfinanzausgleichs die Zukunft des Stadtstaats zu sichern. Scholz’ hartnäckiger Verhandlungspartner war über viele Jahre Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Nun nimmt Scholz dessen Platz ein und sitzt selbst auf der anderen Seite.
Nun wechselt Scholz wieder in die Bundespolitik, wo er die längste Zeit ohnehin aktiv war. Dennoch hat er an dem Bürgermeisteramt Gefallen gefunden, auch wenn er nie der Typ Landesvater oder besser „Stadtvater“ war und sein konnte. Die Wahlerfolge der SPD unter seiner Ägide und die hohen Zustimmungswerte für ihn persönlich, seine Beliebtheit bei den Hamburgern trotz oder auch wegen seiner Sprödigkeit und hanseatischen Zurückhaltung haben ihn „auch persönlich bewegt“, wie er wohl selbst sagen würde.
Der Elbtower als Vermächtnis?
Scholz sprach sogar – ungewöhnlich genug für ihn – von einer gewissen Melancholie angesichts des bevorstehenden Abschieds aus dem Rathaus. Sehr getroffen haben ihn die Vorwürfe aus der Opposition, er sei gedanklich ohnehin schon längst in Berlin gewesen und trete gewissermaßen nun die Flucht aus Hamburg an, wo die Dinge ungemütlicher für ihn geworden seien.
Als eine Art Vermächtnis präsentierte Scholz kurz nach dem Ende der Berliner Koalitionsverhandlungen im Rathaus den Entwurf für den Elbtower, das Hochhaus, das an den Elbbrücken als architektonisches Gegengewicht zur Elbphilharmonie realisiert werden soll. Scholz zeigte sich begeistert von dem Entwurf und den städtebaulichen Perspektiven, die sich ergeben können. „Ich glaube, Sie haben gemerkt, wie gern ich Hamburger Bürgermeister bin“, sagte Scholz am Ende der Pressekonferenz und fügte einen Satz hinzu, der sich offensichtlich nicht von selbst verstand: „Sie sehen also, dass das etwas ist, was mich emotional sehr bewegt.“
Scholz lässt prüfen, der wievielte Bürgermeister er war
Die meisten der 13 Hamburger Bürgermeister seit 1945 haben ihr Amt nicht freiwillig aufgegeben – entweder sprachen die Wähler ihr Machtwort oder es war die eigene Partei, die den „Bgm I“ stürzte. Nur Herbert Weichmann (SPD), Ole von Beust und eben Scholz gingen, weil sie es so wollten. Und: Das Amt des Ersten Bürgermeisters bildete in den allermeisten Fällen den Abschluss der politischen Karriere. Nur zwei Senatspräsidenten starteten nach ihrem Abschied aus dem Rathaus noch einmal durch: Hans-Ulrich Klose, der Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion wurde, und eben Scholz.
Dass die sieben Jahre an der Spitze des Senats für den SPD-Politiker wohl doch mehr sind als nur eine weitere Stufe auf der Karriereleiter, belegt eine kleine Episode am Rande. Scholz hat intern den Auftrag erteilt herauszufinden, der wievielte Bürgermeister er in Hamburg ist. Im Moment steht er auf Position 198, auch wenn die historischen Forschungen noch kleine Änderungen bringen können.
Scholz sieht sich etwas demütig in einer langen Reihe von Vorgängern. Andererseits schwingt vielleicht auch etwas Stolz mit, Teil des größeren Ganzen einer jahrhundertelangen Entwicklung zu sein. An einigen Kapiteln dieses offenen Projekts, das Hamburg heißt, hat Olaf Scholz mitgeschrieben – mit einer sehr eigenen Handschrift.