Hamburg. Der Überwachungsverein hat das städtische Jugendhilfesystem zertifiziert. Anlass waren diverse Fälle von misshandelten Kindern.
Diese Nachricht klingt zunächst etwas kurios, sie hat aber einen sehr ernsten Hintergrund: Die Hamburger Jugendhilfe ist am Montag offiziell vom TÜV zertifiziert worden – als erste in Deutschland. Damit bescheinigt die angesehene Prüfinstanz der Stadt, dass die internen Abläufe, die verhindern sollen, dass ein Kind zu Schaden kommt, tauglich sind.
Dass sich die Sozialbehörde überhaupt um dieses Gütesiegel bemüht hatte, hat eine traurige Vorgeschichte: In den vergangenen Jahren sind immer wieder Kinder schwer misshandelt oder sogar getötet worden, obwohl sie teilweise unter Aufsicht der Behörden standen.
Die schlimmsten Fälle: Yagmur, Lara-Mia
So hatte ein Jugendamt entschieden, dass die kleine Yagmur wieder bei ihrer Mutter wohnen soll, obwohl es Hinweise darauf gab, dass das Mädchen dort misshandelt wurde – 2013 starb die Dreijährige, ermordet von der eigenen Mutter. Ähnlich war es 2009 bei Lara-Mia: Nur eine Woche vor ihrem Tod hatte eine von den Behörden beauftragte Sozialpädagogin das Mädchen besucht – aber übersehen, dass es völlig unterernährt war und mit 4,8 Kilogramm nur die Hälfte des für neun Monate alte Kinder normalen Gewichts hatte. Kurz darauf starb Lara-Mia.
Diese Liste des Grauens ist noch viel länger, und sie führte unter anderem dazu, dass der damalige Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) alle internen Prozesse auf den Prüfstand stellen ließ und 2015 ein Qualitätsmanagement-System (QMS) einführte. Hinter dem sperrigen Wort verbirgt sich ein exakter Leitfaden, welcher Mitarbeiter wann welchen Schritt zu tun hat, um solche Fälle zu verhindern. Regeln wie das Vier-Augen-Prinzip bei bestimmten Fällen gab es zwar auch schon vorher, aber da es immer wieder vorkam, dass sie nicht eingehalten wurden, wurden sie in dem QMS erneut präzisiert.
„Uns war nach den schlimmen Vorfällen klar, dass es nicht neuer Regeln bedurfte, sondern dass wir sicherstellen mussten, dass die vorhandenen Regeln auch eingehalten werden“, sagte Sozialstaatsrat Jan Pörksen (SPD) am Montag. Dieses Regelwerk wurde in den vergangenen Monaten von Sozialexperten des TÜV unter die Lupe genommen und nun hochoffiziell für gut befunden. „Ihr Qualitätsmanagement-System ist intakt“, sagte Holger Hoffmann vom TÜV Nord bei der Verleihung in der Sozialbehörde. Die Darstellung der Abläufe habe ihn beeindruckt: „Wenn man danach arbeitet, hat man viel gewonnen.“
Mehrfachzuständigkeit sorgt immer wieder für Kritik
Dass die Sozialbehörde ausgerechnet einen technischen Überwachungsverein mit der Zertifizierung von Abläufen im Sozialbereich beauftragt hat, erklärte Pörksen mit einem Vergleich: Ähnlich wie im Flugzeugbau, wo nach einem Absturz die Ursachen haarklein untersucht würden und im Detail festgelegt werde, wie so ein Fall für die Zukunft verhindert werden kann, könne man auch Prozesse innerhalb von Behörden und deren Zusammenspiel überprüfen: „Für uns ist der Flugzeugabsturz, wenn ein Kind zu Schaden kommt.“
In dem Zusammenhang betonte Pörksen auch: „Das bedeutet nicht, dass die Sozialarbeit in Hamburg zum Industriebetrieb wird.“ Die Entscheidungen würden auch weiterhin von Menschen getroffen – die Mitarbeiter seien auch in die Erarbeitung des Systems eingebunden gewesen. Allerdings räumte Pörksen ein, dass auch das beste Jugendhilfesystem keine Garantie dafür biete, dass es keine Fälle von Kindesmisshandlung mehr gebe.
In Hamburg arbeiten rund 1150 Menschen im Bereich der Jugendhilfe – verteilt auf die Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) in jedem Bezirksamt, das Familieninterventionsteam (FIZ), den Kinder- und Jugendnotdienst (KJND), die Jugendgerichtshilfe, den jugendpsychiatrischen Dienst und viele Stellen mehr. Diese Mehrfachzuständigkeit sorgte immer wieder für Kritik und war ein Grund dafür, dass die Bürgerschaft nach dem Tod des kleinen Tayler 2015 die Einsetzung einer Enquetekommission beschlossen hat. Das mit Bürgerschaftsabgeordneten und externen Experten besetzte Gremium hat in diesem Frühjahr seine Arbeit aufgenommen. Es soll die Strukturen des Kinderschutzes in der Stadt grundlegend untersuchen und bis 2018 Verbesserungsvorschläge erarbeiten.
CDU-Familienexperte Phillip Heißner sieht die Zertifizierung der Jugendhilfe kritisch: „Es ist bemerkenswert, dass der Senat offenbar den eigenen Experten nicht vertraut und sich vom TÜV reinwaschen lässt. Das schadet zwar nicht, aber an dem Problem, dass die Regeln nicht eingehalten werden, ändert auch das TÜV-Siegel nichts.“