Hamburg. Fehlende Kräfte und falsche Einschätzungen: Einsatzführer geben Details zum Ablauf der Krawalle am Rande des G20-Gipfels preis.
Weit nach Mitternacht war der erste Schritt zur Aufklärung getan. Mehr als acht Stunden lang versuchten Polizeiführer und Innensenator Andy Grote (SPD) am Mittwoch im Rathaus, die schweren Krawalle beim G20-Gipfel begreifbar zu machen.
Aus dieser Sondersitzung des Innenausschusses der Bürgerschaft sowie aus dem vertraulichen Abschlussbericht des Einsatzstabes „BAO Michel“, der dem Abendblatt vorliegt, ergeben sich weitere konkrete Antworten darauf, warum der Staat die Kontrolle verlor. Die wichtigsten neuen Erkenntnisse zu den entscheidenden Ereignissen:
Die Brandserie an der Elbchaussee
Dort waren am 7. Juli, dem Freitagmorgen, mehr als 20 Autos in Brand gesteckt und dutzende Geschäfte zerstört worden. Anders als vielfach behauptet, habe die Polizei das Protestcamp im Volkspark mit rund 1500 Personen in mehr als 300 Zelten im Vorfeld sehr wohl im Blick gehabt und mit Störungen gerechnet – schließlich hatte die Polizei selbst vor so einem Camp gewarnt, war aber in letzter Instanz vor Gericht unterlegen. Zwei Hundertschaften und einige Zivilfahnder seien in Altona daher vor Ort gewesen, so ein Beamter. „Wir waren vorbereitet.“
Doch dann kam es anders. Um 5.55 Uhr hätten die ersten 500 bis 700 Personen das Camp verlassen und sich in mehrere „Finger“ aufgeteilt, die die Polizei teilweise verfolgen konnte, teilweise aber auch aus den Augen verlor. Später seien weitere Gruppen – ob aus dem Camp oder aus der Umgebung kommend ist unklar – gesichtet worden, darunter ein auf 200 Personen anwachsender „Schwarzer Block“.
Als dieser um 6.33 Uhr am Rondenbarg in Bahrenfeld auf die Polizei traf, sei er sofort massiv zum Angriff übergegangen. Rund 60 Personen seien verhaftet worden, einige hätten sich beim Sturz von einem zusammenbrechenden Zaun verletzt. Unter den Festgenommenen habe sich auch der „faktische Organisator des Camps im Volkspark“ befunden. Die restlichen gut 150 Personen hätten sich aber „fluchtartig“ zerstreut.
Zwischen 6.47 und 7.32 Uhr gingen allein 25 Meldungen bei der Polizei über Randale im Stadtgebiet ein – vor allem blockierte Fahrbahnen und Kreuzungen und Angriffe auf Polizeieinheiten. Diese Einsätze hätten „alle verfügbaren Kräften“ gebunden, so ein Beamter im Ausschuss. Als um 7.36 Uhr die Meldung einging „Elbchaussee 43: 200 Vermummte setzen Kfz in Brand“, habe man schlicht keine Kräfte mehr zur Verfügung gehabt. „Über einen Zeitraum von 20 Minuten war es nicht möglich, Kräfte abzuziehen“, so der Beamte.
Außerdem habe die Polizei ein „Geschwindigkeitsproblem“ gehabt. „Die Verlegung von Kräften nach Altona kostete wegen der Verkehrsbehinderungen sehr viel Zeit“, sagte Einsatzleiter Hartmut Dudde. Erkenntnisse über die Täter von Altona habe man noch nicht, räumte Dudde ein, weil man niemand aus dieser Gruppe habe verhaften können. SPD-Fraktionschef Andreas Dressel veranlasste dies zu der Bemerkung: „Ein Ermittlungserfolg wäre schon gut für das Sicherheitsgefühl der Bürger.“
Krawalle im Schanzenviertel
An jenem Freitagabend hatten militante Gewalttäter stundenlang in der Schanze randaliert, geplündert und große Feuer auf den Straßen entzündet. Wie nun bekannt wurde, schaukelte sich die Lage langsam hoch. Ab 19 Uhr kam es laut Polizei vereinzelt zu Störungen, vor allem in den Seitenstraßen. Behelmte Einheiten gingen dagegen vor und nahmen einzelne Personen fest.
Die Führung wollte sich jedoch nach eigenen Angaben zurückhalten und „nicht über jedes Stöckchen springen“, das Randalierer ihnen boten. Man hätte genug Kräfte für ein hartes Vorgehen gehabt, wollte die Schanze jedoch nicht vollständig „besetzen“. Dies habe in der Vergangenheit erst Krawalle provoziert. Der Auftrag aus der Einsatzzentrale hieß daher, die Lage „statisch zu halten“.
Gegen 21 Uhr sei die Zahl der Randalierer jedoch so groß und die Angriffe so stark gewesen, dass man sich zu einer Räumung entschieden habe. Die Polizei legte Videomaterial vor, das diverse Personen auf mehreren Dächern der Straße Schulterblatt zeigt. Verdeckte Kräfte vor Ort gaben an die Einsatzleitung durch, dass etwa 1000 Personen vor Ort „zu allem bereit“ seien. Es wurde von einem „Hinterhalt“ mit Präzisionszwillen, Molotowcocktails und Gehwegplatten als Waffen gerechnet.
Die Polizei forderte mehr als 100 Beamte aus Sonderkommandos an, um die Situation zu bereinigen. Erst gegen 23.30 Uhr konnten diese das erste Haus am Schulterblatt 1 sichern. Zuvor hatten die Elitepolizisten aus dem Bereich der Elbphilharmonie in das Schanzenviertel gebracht und mit den Skizzen der Häuser vertraut gemacht werden müssen.
Eine minutengenaue Aufarbeitung der Frage, ob diese Einheiten so schnell wie möglich eingreifen konnten, steht noch aus. Laut einem Bericht des NDR seien zudem keine Gehwegplatten oder andere Gegenstände sichergestellt worden, die den Verdacht eines Hinterhaltes belegen würden. Ein Polizeisprecher wollte dies weder bestätigen noch dementieren. Die SoKo „Schwarzer Block“ sichte derzeit noch das Beweismaterial.
Demonstration „Welcome to Hell“
Mit dem Versuch der Polizei, den „Schwarzen Block“ bei der Demonstration am Donnerstagabend an der Hafenstraße vom Rest des Aufzuges zu trennen, begannen die ersten schweren Ausschreitungen während des Gipfels. Joachim Ferk, Leiter der Hamburger Bereitschaftspolizei, wies im Innenausschuss mehrfach auf die angebliche Nervosität von Versammlungsleiter Andreas Beuth hin.
Als gegen 19 Uhr der „Schwarze Block“ am Fischmarkt aufgetaucht sei, habe Beuth ihn sogar gebeten, den Aufzug seitlich mit Polizisten zu begleiten. „So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagte Ferk, der Beuth nach eigenen Angaben bereits von Demonstrationen in der Vergangenheit kennt. Auf Nachfrage von Grünen-Fraktionschef Anjes Tjarks bestätigte Ferk seinen Eindruck, dass Beuth die Lage zu brisant geworden sei.
Aus dem Umfeld der Roten Flora wird diese Darstellung zurückgewiesen. Beuth habe sich mit der Polizei darauf verständigt, nur von „Klecksen“ an Polizisten seitlich begleitet zu werden. Beuth und der Anmelder Andreas Blechschmidt hätten zudem den vorderen Teil des „Schwarzen Blocks“ dazu bewegen können, ihre Vermummung abzulegen – und bevor sie die Gelegenheit bekommen hätten, auf die weiter hinten stehenden Autonomen einzuwirken, sei die Polizei „brutal“ eingeschritten.
Einsatzleiter Dudde bezeichnete den Ort des „Aufstoppens“ der Demonstration am Fischmarkt wegen der Flutschutzmauer als geeignet. Damit, dass sich andere Demonstranten und Schaulustige auf dem erhöhten Gehweg mit dem „Schwarzen Block“ solidarisierten und ihnen bei der Flucht halfen, habe er „nicht gerechnet“. Bei den folgenden Zusammenstößen gab es nur wenige Festnahmen. Aufgrund der unübersichtlichen Lage habe die Bereinigung der Situation für die Beamten im Vordergrund gestanden.