Hamburg . Hamburger Politiker werden zunehmend beschimpft und bedroht – bis hin zu konkreten Morddrohungen. Viele Fälle machen fassungslos.

Wenn dieser Text ein Film wäre, hätte er vermutlich das Prädikat „FSK 16“ – nicht jugendfrei. Denn vieles, was auf den kommenden Zeilen zu lesen ist, ist brutal, pervers, abstoßend oder einfach nur erschreckend. Es geht aber nicht um Fiktion oder um die neusten Ballerspiele, sondern es geht um Politik. Darum, wie sich in unseren politischen Debatten die Grenzen verschoben oder ganz aufgelöst haben, wie Politiker miteinander umgehen, vielmehr aber, wie die Bürger mit ihren Volksvertretern umgehen.

Zum Beispiel jener lärmgeplagte Flughafenanwohner aus dem Hamburger Norden. Schon 2014, vor der Bürgerschaftswahl, hatte er Hoffnungen in die Grünen gesetzt und Kontakt zu deren Bürgerschaftsabgeordneten Anjes Tjarks aufgenommen. Es entspann sich ein durchaus sachlicher Mailverkehr, der auch anhielt, als die Grünen in die Regierung eintraten und Tjarks Fraktionschef wurde. Doch was die Ökopartei in Sachen Lärmschutz erreichte, reichte dem Mann nicht, und so schrieb er Tjarks am 1. November 2015: „Es gibt genug dumme Wählerschafe, die Sie weiterhin wählen werden. Ich gebe Ihnen eine allerletzte Chance, mich doch noch umzustimmen.“ Als der Politiker nicht antwortete, griff der Mann zu folgenden Worten: „Ok – das wars wohl. Verrek in deiner fotzenpartei“, mailte er Tjarks am 9. November und fügte hinzu: „Und vielleicht siet man sich ja mal, dann schneid ich dir die eier ab du hurensohn.“

Wenn man die Folgen einer unkontrollierten Hodenamputation bedenkt, ist das im Grunde eine Art Morddrohung, ausgesprochen unter vollem Namen. Tjarks verzichtete dennoch auf eine Anzeige. Solche Vorgänge sind in der Hamburger Politik inzwischen an der Tagesordnung.

Einen anderen Bürgerschaftsabgeordneten, der sich für ein Flüchtlingsheim einsetzte, erreichten im Herbst gleich mehrere Drohbriefe: Wenn er sich weiter für die Unterkunft einsetze, werde seiner Familie etwas passieren, hieß es darin. Der konsternierte Familienvater, der namentlich nicht genannt werden möchte, schaltete die Polizei ein, die nun ermittelt.

Auch Cansu Özdemir hat den Staatsschutz informiert. Die Co-Fraktionschefin der Linkspartei wird schon seit ihrer Wahl in die Bürgerschaft 2011 beschimpft und bedroht. Mal drohen ihr Rechtsradikale wegen ihres muslimischen Glaubens, mal verfluchen sie türkische Nationalisten wegen ihrer kurdischen Herkunft. Als sie 2014 in der Talkshow von Anne Will die kurdische Sichtweise auf den Konflikt um die syrische Stadt Kobane vertrat, eskalierte es endgültig: „Du PKK-Hure“, beschimpfte sie ein junger Mann auf Facebook, „warte ab, du wirst schon sehen, was mit Dir passiert“.

Dass im Zuge der Flüchtlingskrise nicht nur „linke“ Politiker mit Hass und Drohungen überschüttet werden, zeigt das Beispiel Karin Prien. Die CDU-Bürgerschaftsabgeordnete erhielt im Mai 2015 Hunderte Hassmails, nachdem sie vorgeschlagen hatte, Flüchtlinge auch in Privathaushalten unterzubringen, wenn sich Hamburger dafür freiwillig melden. „Paß bloß auf, daß wir dich nicht erwischen, du rote Schlampe! Wenn wir dich kriegen wirst du aufgehängt!!! Und wir kriegen jeden Volksverräter! Wollen wir wetten?“, hieß es etwa in einer Mail. Prien hat gegen zwölf Absender Strafanzeige gestellt. „Viel ist aber nicht dabei herausgekommen“, berichtet sie. Einige Fälle seien eingestellt worden, weil die Täter nicht ermittelt werden konnten. In den allermeisten habe es sich rein rechtlich um Meinungsäußerungen gehandelt. Drei Verfahren liefen noch.

Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (SPD) beobachtet die zunehmende Schärfe in politischen Auseinandersetzungen mit Sorge: „Der Ton gegenüber uns Abgeordneten ist zum Teil erschreckend radikal, schamlos und brutal geworden“, sagte sie dem Abendblatt. Am heutigen Mittwoch will sie zu Beginn der Bürgerschaftssitzung eine Erklärung dazu abgeben. Anlass sind vor allem die erschütternden Erfahrungen von Stefanie von Berg.

Die Bürgerschaftsabgeordnete der Grünen hat nicht nur ihre Telefonnummer geändert und sämtliche Bilder mit Bezug zu ihrer Familie aus Facebook gelöscht. Nachdem sie wochenlang kaum schlafen konnte, hat sie sich auch psychologische Hilfe gesucht. „Ich fühle mich wie ein Opfer sexueller Gewalt, überschüttet mit perversen Gewaltfantasien, zutiefst angeekelt und beschmutzt“, sagt die 51-Jährige Schulpolitikerin und Mutter eines Sohnes.

Hunderte Kommentatoren hatten von Berg beleidigt und bedroht, bei Facebook, Twitter, Youtube oder per Mail – aber auch am Telefon. Dem Namen nach urdeutsche Männer wünschten „der Kampflesbe“ eine Massen-Vergewaltigung durch Flüchtlinge, sie solle „Kanonenfutter für die Neuankömmlinge“ sein. Einer schrieb, er habe sich bei Google Earth ihr Haus angesehen und werde demnächst mal vorbeischauen. Bis in die ultrarechten Milieus der USA schwappte die Hasswelle. Schließlich twitterte laut von Berg sogar die New Media von Donald Trump, dem schillernden Bewerber um die US-Präsidentschaftskandidatur, sie wolle das deutsche Volk vernichten.

Wie aber konnte so ein Hasssturm entstehen? Von Berg hatte am 11. November 2015 in der Bürgerschaft eine kurze Rede zur Flüchtlingspolitik gehalten. „Ich bin der Auffassung, dass wir in 20, 30 Jahren gar keine ethnischen Mehrheiten mehr haben in unserer Stadt“, sagte von Berg. Das würden auch Migrationsforscher prognostizieren. Die Stadt werde eine „superkulturelle Gesellschaft“ sein, so die gebürtige Göttingerin. „Und ich sage Ihnen auch ganz deutlich, gerade hier in Richtung rechts: Das ist gut so.“

Das Protokoll verzeichnete keine große Aufregung. Die löste die AfD erst einige Zeit später aus. Die Bürgerschaftsfraktion stellte das Video der Von-Berg-Rede am 20. November auf ihre Facebook-Seite und schrieb darüber: „GRÜNEN-Politikerin läßt die Maske fallen (...) Das politische Ziel der Grünen: Es soll keine deutsche Bevölkerungsmehrheit mehr geben.“ Das Video wurde allein über die Facebook-Seite der AfD-Fraktion bis heute mehr als 208.000 Mal angesehen und mehr als 4500 Mal geteilt. Inzwischen kursieren auf Youtube Englisch untertitelte Versionen des kurzen Videoclips.

Als der Horror wenig später begann, konnte sich von Berg noch nicht ausmalen, was da auf sie zurollte. Die Angst kam aber spätestens, als die ersten Anrufer zu Hause ihren Sohn ans Telefon bekamen und ihn bedrohten – und die Beschimpfungen einfach kein Ende nahmen. Viele schrieben nicht einmal unter Pseudonym, sondern wünschten unter bürgerlichen Namen alles Böse, das sich denken lässt. Einer forderte, die Politikerin möge „schnell hingerichtet werden“. Ein anderer schlug vor, man möge von Berg „in die Fresse schießen“. Ein Jürgen J. mailte in der Vorweihnachtszeit, er wünsche von Berg „von Herzen“, sie möge „von einem Muslim vergewaltigt werden“.

Mittlerweile ist die Grüne zur Polizei gegangen und hat eine Anwältin eingeschaltet. Die Kanzlei Mielchen & Coll. hat acht Strafanzeigen wegen Beleidigung und Aufforderung zu Straftaten erstattet. Weitere könnten folgen. Von Berg selbst geht davon aus, dass es zu Verurteilungen kommt. Die Täter könnten zu Strafen von rund einem Netto-Monatsgehalt verurteilt werden.

Ihr habe der Fall gezeigt, „wie groß die Schnittmenge zwischen AfD und NPD sei“ und „wie groß das konkrete Gefährdungspotenzial“, sagt von Berg heute. Wenn man diese Dinge erlebe, könne man sich wie 1933 vorkommen, daher sei es an der Zeit, gegenzusteuern. Jeder, der mit Hasskommentaren konfrontiert werde, sollte Anzeige erstatten, so von Berg. „Nur so kann sich langfristig vielleicht etwas ändern.“

Die AfD hat derweil ein paar müde Entschuldigungen abgegeben. „Die Kommentare haben uns teilweise Bauchschmerzen bereitet“, teilte Fraktionschef Jörn Kruse am 14. Januar mit. „Da waren doch einige dabei, die unter der Gürtellinie waren und Beleidigungen übelster Art enthielten. Das ist natürlich völlig inakzeptabel ... Sobald wir davon erfuhren, haben wir die schlimmen Kommentare auch umgehend gelöscht. Für externe Kommentare tragen außerdem wir nicht die Verantwortung, sondern die Verfasser.“ In der Sache aber blieb man dabei. „Ich saß bei der Rede von Frau Berg direkt vor ihr und war daher fassungslos über den Inhalt“, so Kruse.

Zu Wort meldete er sich damals aber nicht – was die Bürgerschaftspräsidentin kritisiert: „Hätte die AfD ihre Kritik an der Rede von Frau von Berg im Parlament geäußert, hätte es eine scharfe Debatte gegeben, aber das wäre innerhalb der Regeln in Ordnung gewesen“, sagt Veit. „Sich an einer Debatte nicht zu beteiligen, dann aber im Internet nachzutreten, ist schlechter Stil.“

Einen enormen Schwall der Empörung musste erst Anfang dieses Jahres der stellvertretende Landesvorsitzender der Grünen, Michael Gwosdz, über sich ergehen lassen. Er hatte nach den Silvester-Übergriffen in einer öffentlich gewordenen Nachricht an eine Bürgerin geschrieben: „Als Mann weiß ich, jeder noch so gut erzogene und tolerante Mann ist ein potenzieller Vergewaltiger. Auch ich.“ In der Folge wurde der engagierte Christ als „Kellerassel“ oder potenzieller Kinderschänder beschimpft und ihm die Kastration nahegelegt. Außerdem zeigten ihn mehrere Bürger bundesweit wegen Beleidigung und Volksverhetzung an.

Carola Veit führt die Verrohung der Sitten einerseits auf die sich zuspitzende Flüchtlingsproblematik zurück: „Das ist ein emotionales Thema, und da liegt für manchen Bürger der Griff zu respektlosem Vokabular offenbar nahe.“ Mindestens ebenso bedenklich sei, dass in den sozialen Netzwerken kaum Regeln und Grenzen gelten. „Eine E-Mail ist schnell geschrieben und abgeschickt“, sagt auch Jan Hieber, Leiter des Staatsschutzes im Landeskriminalamt (LKA). „Anders etwa als eine Parole, die an eine Hauswand gesprüht, oder ein Brief, der geschrieben und abgeschickt wird. Es gibt einen unmittelbaren emotionalen Zusammenhang zwischen der E-Mail und dem Anlass. Das sind sehr häufig impulsive Taten.“

Sind Drohungen ernst zu nehmen? Hieber: „Pauschal lässt sich sagen, dass sie meistens nicht ernst zu nehmen sind.“ Diese hätten die Funktion eines Ventils für den Absender. „In der Regel ist das Ziel, Angst zu verbreiten“ sagt der Staatsschutz-Chef. „Aber wer wirklich zur Tat schreiten wollte, würde selten vorher darüber schreiben. Gleichwohl kann Hetze im Netz aber den Nährboden für Gewalttaten bereiten und hat auch eine wichtige Signalfunktion für mögliche Radikalisierung. Deshalb nehmen wir jede Anzeige ernst und bewerten den Einzelfall.“

Jan-Hinrik Schmidt, wissenschaftlicher Referent für digitale interaktive Medien und politische Kommunikation am Hans-Bredow-Institut, verweist darauf, dass schon immer extreme Meinungen geäußert wurden, es sei nur früher nicht im gleichen Maße wahrgenommen worden. „Außerhalb des Internets reden sich die Leute auch in Rage und schießen über das Ziel hinaus. Wenn es aber nicht am Stammtisch bleibt, sondern per Mail verschickt oder in Foren geschrieben wird, findet das sehr schnell Verbreitung“, so Schmidt. Bei digitalen Medien kämen selbstverstärkende Effekte hinzu. Auf Facebook oder in Foren schaukelten sich Kommentatoren gegenseitig auf. Andere Meinungen fänden in diesen digitalen Räumen keinen Platz. „Auf diese Weise erscheint eine bestimmte Bevölkerungsgruppe größer, als sie es tatsächlich ist“, sagt der Medienforscher.

Zudem sei zu beobachten, dass es Internetnutzer gebe, die eigens Accounts anlegten, um mit diesen die eigene Meinung zu transportieren. Schmidt: „Zwar gibt es auch den besorgten Bürger, aber es sind gerade die strategische Accounts, mit denen gezielt Meinung gemacht wird.“

Dass die Politik vor den zunehmenden Anfeindungen zurückweichen könnte, hält Carola Veit für keine Option: „Als gewählte Abgeordnete lassen wir uns nicht einschüchtern.“ Anjes Tjarks plädiert für einen respektvolleren Umgang: „Ich würde mich sehr freuen, wenn wir den vermeintlichen Gegensatz zwischen Bürgern und Politikern auflösen. Auch als Politiker bin ich ganz normaler Bürger dieser Stadt.“