Hamburg. Die Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank will gemeinsam mit Olaf Scholz eine Lösung finden. Wer arbeitet, soll bleiben dürfen.

Andreas Dey

Hamburgs Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Grüne) hat die Haltung aller neun grün regierten Bundesländer zum Thema Flüchtlinge maßgeblich geprägt. In einigen Punkten ist die Wissenschaftssenatorin ganz anderer Auffassung als Bürgermeister Olaf Scholz (SPD).

Hamburger Abendblatt: In Ihrem Wahlprogramm gingen die Grünen noch davon aus, dass in diesem Jahr 4000 Flüchtlinge nach Hamburg kommen würden. Tatsächlich richtet sich die Stadt auf 30.000 Flüchtlinge ein. Müssen Sie nicht die komplette grüne Flüchtlingspolitik überdenken?

Katharina Fegebank: Es ist schon so, dass wir nahezu täglich Kompromisse mit der Realität machen. Wir stehen vor der vielleicht größten Herausforderung einer Politikergeneration. Auch für alle Bürger und die Flüchtlinge selbst ist das eine außerordentliche Situation. Das heißt, dass man Positionen und Ideen, die lange richtig waren, anhand einer neuen Realität überprüfen muss.

Ein konkreter Punkt ist etwa die Größe der Unterkünfte. Die Grünen haben sich für kleine Einheiten ausgesprochen. Das ist dann ja überholt.

Fegebank : Das kann man deutlich so sagen. Die Vorstellung, Flüchtlinge in kleinen, dezentralen Unterkünften unterzubringen, ist in unserer Programmatik verankert. Aber wie alle anderen haben auch wir Grüne in unserem Programm nicht die Situation vorhergesehen, die wir nun erleben. Es geht jetzt jeden Tag darum, dafür zu sorgen, dass diejenigen, die hier ankommen, ein Dach über dem Kopf haben und im Winter nicht erfrieren.

Mit Blick auf die neue Realität hat Bürgermeister Scholz gefordert, Flüchtlinge getrennt nach ihrer Herkunft und Bleibeperspektive unterzubringen. Was ist so falsch daran?

Fegebank : Meiner Wahrnehmung nach ist das eine Phantomdebatte. In Hamburg wie in anderen Ländern ist klar, dass die Flüchtlinge mit einer wahrscheinlichen Bleibeperspektive schnell von der Erstaufnahme in die Folgeeinrichtung kommen und gezielt integriert werden. Menschen mit geringer oder ohne Bleibeperspektive bleiben in der Regel länger in der Erstaufnahme. Deshalb stellt sich die Frage, eine neue Aufnahmeeinrichtung zu schaffen, in der womöglich nach ethnischer Herkunft getrennt wird, für mich nicht.

Die Idee dahinter ist ja, dass das Bundesamt für Migration für die Unterbringung zahlen würde. Das könnte doch zu einer Entlastung Hamburgs führen.

Fegebank : Die Frage ist doch, warum man in dieser Situation, wo wir händeringend nach neuen Flächen suchen und Unterkünfte größer machen, über große Strukturveränderungen diskutiert. Entscheidend ist, dass die Asylverfahren vom zuständigen Bundesamt schneller abgearbeitet werden. Dann sinkt ganz automatisch auch der Druck auf die Erstaufnahmen.

Wie kann man den Zustrom aus Westbalkan-Ländern wie dem Kosovo begrenzen, deren Einwohner kaum eine Chance auf ein Bleiberecht bei uns haben?

Fegebank : Es ist Konsens bei Rot-Grün, dass die Zahl der Asylverfahren vom Westbalkan gesenkt werden muss. Ich halte einen Dreiklang für Erfolg versprechend: Zum einen sehr viel schnellere Verfahren und Abbau des Staus von rund mindestens 250.000 Fällen bundesweit. Zweitens Aufklärungskampagnen vor Ort auf dem westlichen Balkan, damit die Menschen sich nicht mit falschen Hoffnungen auf den Weg machen.

Und drittens?

Fegebank : Drittens setze ich auf legale Zugänge für Menschen vom Westbalkan am Arbeitsmarkt, um eine Alternative zum Asylverfahren zu schaffen. Es muss die Chance geben, vom Asylverfahren in Arbeitsmarktzuwanderung zu wechseln. Außerdem gibt es bereits eine Vielzahl von beschlossenen Maßnahmen. Zum Beispiel das seit August vereinfachte, befristete Wiedereinreiseverbot. Wenn einmal abgelehnte Asylbewerber nicht erneut nach Deutschland einreisen können, kann das zu einem Rückgang der Asylbewerberzahlen führen.

Eine weitere Diskussion, die ebenfalls von grüner Seite kritisch beäugt wird, ist die Ausweitung weiterer sicherer Herkunftsstaaten. Allein der grüne Ministerpräsident Baden-Württembergs Winfried Kretschmann kann sich das unter Umständen vorstellen.

Fegebank : Ich habe eher den Eindruck, dass Kretschmann gerne missverstanden wird. Er sagt, dass die Ausweisung von sicheren Herkunftsländern nicht erwiesen ist als wirksames Mittel, die Zahl der Asylanträge zu senken. Diese Ansicht teile ich. Die Forderung nach weiteren sichereren Herkunftsstaaten ist für mich Symbolpolitik.

Weil die Menschen trotzdem kommen?

Fegebank : Ja, die Menschen kommen trotzdem. Umgekehrt sieht man am Beispiel des Kosovo: Das Vorziehen von Verfahren und auch eine gezielte Aufklärungskampagne vor Ort haben dazu geführt hat, dass die Zahlen seit einigen Monaten nach unten gegangen sind – obwohl das Kosovo kein sicheres Herkunftsland ist. Das Individualrecht auf Asyl ist ein hohes Gut, das nicht willkürlich beschnitten werden sollte. Nur weil wenige Menschen aus einer Region anerkannt werden, darf das Grundrecht nicht fallen. Das überzeugt mich weder praktisch noch grundsätzlich.

Olaf Scholz scheint da ja anderer Meinung zu sein. Wie kann es da denn eine gemeinsame rot-grüne Linie geben?

Fegebank : Es ist uns beiden klar, dass wir da unterschiedliche Grundhaltungen haben. Dennoch suchen wir nach einer gemeinsamen Lösung.

Diese Lösung kann am Ende doch nur heißen, dass sich Hamburg bei einer Abstimmung im Bundesrat enthält.

Fegebank : Mir ist es erst einmal wichtig, dass wir im Kreis der Länder, die grün regiert werden, eine gemeinsame Linie entwickelt haben. Was nicht weiterhilft, ist, diese eine Symbolfrage zum Mittelpunkt zu machen und die vielen anderen Maßnahmen für ein Gesamtkonzept zu vernachlässigen.

Dann kommen wir mal zu einer dieser Maßnahmen. Sie sind für Arbeitnehmerfreizügigkeit. Olaf Scholz spricht vom Gastarbeiterabkommen. Wer soll in diesen Genuss kommen?

Fegebank : Es ist vorstellbar, dass man gezielt in den Herkunftsländern die Menschen anspricht. Dazu kann man sagen, dass man in bestimmten Berufen eine bestimmte Zahl von Menschen braucht.

Und was ist mit denen, die nicht qualifiziert sind, aber dennoch kommen wollen?

Fegebank : Jeder sollte kommen können und sich innerhalb von drei Monaten einen Job suchen können, vergleichbar mit Arbeitnehmern aus EU-Mitgliedsstaaten. Es gibt zwar in diesen Monaten keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Aber wer Arbeit findet, der muss auch hier bleiben können. Und wer keine findet, wird wieder gehen.

In der Vergangenheit sind viele, die ohne Arbeit waren, trotzdem geblieben und dann in die Winternotlager gezogen.

Fegebank : Die Rumänen und Bulgaren, die im Rahmen der Freizügigkeit nach Hamburg gekommen sind, sind größtenteils in Lohn und Brot. Und das sind nicht nur Hochqualifizierte.

Für Unqualifizierte gibt es aber keinen Markt.

Fegebank : Ich will es Menschen nicht verbieten, nach Deutschland zu kommen. Aber wir sollten ihnen ehrlich erklären, was sie hier erwartet.

Nämlich?

Fegebank : Dass es sehr schwierig ist, über ein Asylverfahren den Weg hierher zu finden. Und dass alle Alternativen, die wir entwickeln, davon abhängen, dass sie hier Arbeit finden.

Hamburg und andere Großstädte klagen darüber, dass sie im Vergleich zu Flächenländern überdurchschnittlich viele Flüchtlinge aufnehmen. Teilen Sie die Forderung nach Umverteilung?

Fegebank : Eine spannende Debatte, bei der es große Vorbehalte gibt. In Hamburg gibt es de facto null Leerstand, während es in Ostdeutschland je nach Region bis zu 15 Prozent sind. Daher verstehe ich die Beharrungskräfte der Ministerpräsidenten im Osten nicht so recht, die sagen, an dem Verteilungsschlüssel wolle man nichts ändern. Die Flüchtlinge von heute könnten die Ärztin oder der Altenpfleger von morgen sein – Fachkräfte, die gerade im Osten dringend gebraucht werden.

Ihre Hamburger Parteichefin, Anna Gallina, hat sich gegen Umverteilung und für mehr Integration ausgesprochen.

Fegebank : Wir müssen das eine tun, ohne das andere zu lassen. Wir müssen über alle wichtigen praktischen Gesichtspunkte debattieren, und dazu gehört die Frage der Verteilung der Flüchtlinge auf die Länder.

Was bedeutet Zuwanderung für Hamburg, was kann sie bedeuten?

Fegebank : Ich setze große Hoffnungen in Zuwanderung. Viele Menschen sind gekommen, um zu bleiben. Das werden Hamburgerinnen und Hamburger. Das ist einerseits eine große Herausforderung in finanzieller und organisatorischer Hinsicht, aber es ist auch eine ganz große Chance für unsere Stadt. Diese Menschen lassen Hamburg wachsen, sie steigern die Vielfalt in Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen, und sie sorgen langfristig für wirtschaftliche Prosperität.

Wenn die Chancen so groß sind, müsste Hamburg nicht um Flüchtlinge werben? Statt Zeltlagern mit Waschcontainern Vorzeigeunterkünfte errichten und die Mittel für Integration vervielfachen?

Fegebank : Perspektivisch muss es genau so laufen. Aber aktuell werden wir von der Realität überrollt. Und es war sicher ein Fehler der Vergangenheit, dass nach dem letzten großen Flüchtlingszustrom Anfang der 90er-Jahre Unterkünfte und Strukturen fast komplett wieder abgebaut wurden. Das werfe ich niemandem vor, weil die heutige Lage nicht vorherzusehen war. Aber wir sollten uns hüten, diesen Fehler noch einmal zu machen. Die nächste Krise in der Welt kommt bestimmt.