Hamburg/Bremen. Es geht um das „Personenstimmenparadox“. FDP-Politiker zog nicht in die Bürgerschaft ein, weil er Einzelstimmen erhielt.

SPD, CDU und Grüne wollen das Hamburger Wahlrecht auf den Prüfstand stellen. Vielen gilt das Verfahren mit seinen zehn Stimmen als zu kompliziert, und manche sehen darin eine Schwächung der Parteiendemokratie. Jetzt kommen erhebliche juristische Bedenken hinzu.

Unter bestimmten Bedingungen ist es möglich, dass Wähler mit ihren direkt für einen Kandidaten abgegebenen Stimmen (Personenstimmen) paradoxerweise gerade verhindern, dass derjenige in die Bürgerschaft einzieht. „Dieses Personenstimmenparadox ist in der Tat verfassungswidrig“, sagt Prof. Lothar Probst, Politikwissenschaftler an der Universität Bremen.

„Es zählt zu den Grundvoraussetzungen des demokratischen Wahlsystems, dass man mit seiner Stimme für einen Kandidaten dessen Chance erhöht, gewählt zu werden. Die Chancen zu verschlechtern, verkehrt den Sinn der Stimmabgabe ins Gegenteil“, ergänzt Probsts Kollege, der Politikwissenschaftler Valentin Schröder. Dieses sogenannte „negative Stimmgewicht“ verletze den Grundsatz der „Erfolgswertgleichheit“ der Stimmabgabe.

Das Wahlrecht ermöglicht es, einen oder mehrere Kandidaten direkt zu wählen (Personenstimmen), die Stimmen einer oder mehreren Parteien zu geben (Listenstimmen) oder beide Varianten zu mischen. Bei der Wahl am 15. Februar ist nun erstmals der Fall eingetreten, dass ein Kandidat nicht in die Bürgerschaft einzog, gerade weil er Personenstimmen erhalten hat: der FDP-Politiker Ewald Aukes. Der Unternehmer mit dem politischen Schwerpunkt in Hamburg-Mitte kandidierte auf Platz sechs der FDP-Landesliste und erhielt 741 Personenstimmen. Das reichte nicht für einen der vier FDP-Plätze, die über Personenstimmen vergeben wurden. Aber: Hätte Aukes keine einzige Personenstimme erhalten, wäre er mit seinem Platz sechs über die Landesliste in die Bürgerschaft eingezogen.

Der Grund: Je mehr Personenstimmen auf die Kandidaten einer Partei entfallen, desto mehr Bewerber ziehen über die „Personenbank“ in die Bürgerschaft ein – und umgekehrt. Im Fall des FDP-Mannes Aukes fehlten 44 Landeslistenstimmen, damit sein Platz sechs „gezogen“ hätte. Statt Aukes sitzt nun seine Parteifreundin Jennyfer Dutschke, die auf 1078 Personenstimmen kam, im Parlament. „Ich werde nicht gegen das Ergebnis klagen, aber mein Fall zeigt die Ungerechtigkeit des Systems“, sagt Aukes. „Dass ich das nicht in Ordnung finde, ist doch klar.“

Die Bremer Wissenschaftler Probst und Schröder haben in einem Gutachten die Bremer Bürgerschaftswahl untersucht, deren Wahlsystem dem Hamburger völlig gleicht. „Der Effekt der Personenstimmenabgabe ist unkalkulierbar: Vielleicht verschaffen sie den damit Bedachten ein Mandat, vielleicht verhindern sie dies“, kritisieren Probst und Schröder.

Die CDU-Verfassungspolitikerin Karin Prien sieht sich durch das Gutachten der Bremer Politikwissenschaftler in ihrer Kritik am Hamburger Wahlrecht bestätigt. „Das Gutachten benennt die Schwachstellen auch des Hamburger Wahlrechts klar und deutlich“, sagt Prien. „Es ist hinsichtlich der Landesliste derart intransparent, dass die Wähler nicht mehr verstehen, was genau sie mit ihrer Stimmabgabe bewirken. Möglicherweise erreichen sie das Gegenteil dessen, was sie wollen“, so Prien. „Das ist auch aus unserer Sicht mit der Verfassung nicht vereinbar und muss dringend geändert werden.“

Prof. Lothar Probst und Valentin Schröder hatten in ihrem Gutachten zur Bremer Bürgerschaftswahl (deren System ist mit dem Hamburger weitgehend identisch, die Red.) auch darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit, Personenstimmen für Kandidaten abzugeben, den Parteien ihre Listenreihung „zerschießt“. Die von den Parteien entwickelten Kriterien für die Listenreihung würden zum Teil außer Kraft gesetzt. „Der Ausgang der Wahl wird für die Parteien zum Lotteriespiel“, so die Forscher. „Qualitativ hochwertige Parlamentsarbeit braucht Fachleute, die über die Landeslisten einigermaßen sicher platziert werden können“, sagt Prien. „Wir werden alle Punkte in die jetzt anlaufende Analyse des Wahlsystems aufnehmen“, so der SPD-Verfassungspolitiker Olaf Steinbiß.