Erfahrene Fachpolitiker scheitern am Wahlrecht. Kompetenz wird nicht honoriert
Zwei Stimmzettel, zehn Stimmen und 887 Kandidaten, dazu die Möglichkeit des Kumulierens und Panaschierens und schließlich Wahlkreisbewerber, die sich am Ende gegen Kandidaten auf den Landeslisten durchsetzten – zu behaupten, dass vielen Hamburgern das Wahlrecht komplex erscheint, ist noch eine Untertreibung. Das schlägt sich nicht nur in der nochmals gesunkenen Wahlbeteiligung nieder. 21.981 Hamburger gaben am Sonntag ungültige Wahlzettel ab, dreimal so viele wie 2008 bei der letzten Wahl nach altem Recht.
Die Absicht ist löblich: Das neue Wahlrecht soll dem Volk mehr direkten Einfluss auf die Auswahl der Personen einräumen, die sie im Parlament vertreten. Das setzt aber voraus, dass sich die Bürger zumindest in Ansätzen mit den Kandidaten beschäftigen, die in ihrem Wahlkreis antreten, mit ihren Programmen und ihrer Leistungsbilanz. Und das scheint im wahren Leben nicht (immer) der Fall zu sein. Stattdessen machen viele Wähler bei demjenigen Kandidaten ihr Kreuz, den sie zumindest dem Namen nach kennen (Theatermacherin Isabella Vértes-Schütter bekam 9169 Stimmen), der einen Vertrauen einflößenden Beruf angibt („Sanitäter“ Hauke Wagner) oder schlicht mit einem Doktortitel beeindruckt.
Die Folgen reichen weit. Sie treffen insbesondere die CDU-Fraktion, für die sich das neue Wahlrecht als Experten-Killer erweist. Die Partei sieht ohnehin schweren Zeiten entgegen. Mit 15,9 Prozent muss sie ein Ergebnis einstecken, das die vor zehn Jahren noch allein regierende Volkspartei fast marginalisiert. Der verkleinerten Fraktion ist auch noch ein Gutteil ihrer Leistungsträger abhandengekommen. Nachdem etliche Fachpolitiker nicht wieder angetreten waren, verpassten jetzt die beiden Fraktionsvizes Roland Heintze und Hans-Detlef Roock den Sprung in die Bürgerschaft. Auch Christoph de Vries, Friederike Föcking und die Nachwuchshoffnung Christoph Ploß bleiben außen vor. Ohne deren Kompetenz (und finanziell durch das schlechte Wahlergebnis zusätzlich geschwächt) wird es für die Partei noch schwerer.
Andere Parteien waren cleverer: Sie haben ihre Schwergewichte auf der Landesliste abgesichert, um sicherzugehen, dass sie erneut in der Bürgerschaft sitzen. Eine Ausnahme ist SPD-Fraktionschef Andreas Dressel, der sich als Wahlkreiskandidat ganz auf seine Prominenz verließ und tatsächlich mehr als 83.000 Stimmen einfahren konnte – Rekord.
Wenn der Wähler das Wahlrecht nutzt, um Leistungsträger durch teils unbekannte Neulinge zu ersetzen, dann wird das auch die Arbeit in der Bürgerschaft verändern – und zwar über die Grenzen der kleinen CDU-Fraktion hinaus. Gedacht war das Wahlrecht, um den Einfluss der Parteien auf die Auswahl der Kandidaten einzuschränken. In der Praxis werden aber nicht nur die Parteien geschwächt. Das Wahlrecht schwächt das Parlament selbst, wenn statt kompetenter Fachpolitiker, die in die immer komplexer werdende Materie eingearbeitet sind, unerfahrene Neulinge in der Volksvertretung sitzen. Es erschwert die verfassungsmäßige Aufgabe des Parlaments, die Regierung zu kontrollieren. Wenn die Experten fehlen, droht der Senat – gestützt auf seinen Apparat aus Fachleuten – eine gewaltige Übermacht zu bekommen.
Und schließlich dürften auch die Abgeordneten selbst ihre Lehre aus dem Wahlverhalten der Hamburger ziehen: Fleiß im Hintergrund zahlt sich nicht aus, das Ringen um Themen in langen Ausschusssitzungen bringt den Einzelnen nicht voran, eine noch so hohe Anerkennung in Fachkreisen verschafft nicht ausreichend Stimmen. Wer wiedergewählt werden will, muss sich bekannt machen, nach vorn drängen, schnell bei der Hand sein mit Einschätzungen und Forderungen – ins Rampenlicht, egal wie.