Spitzenkandidat Dietrich Wersich fordert eine Aufarbeitung des Wahldesasters. Seine künftige Rolle lässt er offen, Ansprüche stellt er aber nicht.

Hamburg. Heute Abend wird auf einem CDU-Parteitag in Wilhelmsburg der Absturz der Partei auf 15,9 Prozent diskutiert – ihr schlechtestes Ergebnis bei einer Bürgerschaftswahl in Hamburg. Zuvor bezog Spitzenkandidat Dietrich Wersich exklusiv im Abendblatt-Interview Stellung zur Lage der Partei, seiner Rolle und Rücktrittsforderungen gegen ihn als Fraktionschef.

Hamburger Abendblatt: Herr Wersich, wie geht es Ihnen persönlich?
Dietrich Wersich: Ich bin schwer enttäuscht und traurig über das Wahlergebnis. Ich bekomme viele Kopf-hoch-Mails, aber letztlich ist es kein Trost, dass ich jetzt und im Wahlkampf zwar viel Respekt und Anerkennung bekommen habe, aber zu wenig Stimmen. Es ist auch eine persönliche Niederlage und erfordert Selbstkritik.

15,9 Prozent waren das schlechteste Wahlergebnis der Hamburger CDU aller Zeiten, mit Ihnen als Spitzenkandidaten. Wie konnte das passieren, und welche Fehler haben Sie persönlich gemacht?
Wersich: Ja, ich war wahrscheinlich zu brav und zu hanseatisch. Gegen die ständige Debatte über Umfragen und die Aussichtslosigkeit der CDU ist es uns nicht gelungen, die Themen in den Vordergrund zu stellen. Es ist uns und mir nicht gelungen, den entscheidenden Hebel gegen einen sehr anerkannten Bürgermeister zu finden. So konnten wir nicht verhindern, dass Scholz’ Drohung mit Rot-Grün dazu führte, dass viele Wähler eine SPD-Alleinregierung als das kleinere Übel betrachtet und gleich Scholz gewählt haben. Und ich habe es mit der CDU nicht geschafft, die massive Abwanderung in Richtung FDP zu verhindern.

Aber mit der Busbeschleunigung, der Flüchtlingsproblematik und der Kita-Qualität gab es doch große Themen, über die in der Stadt diskutiert wurde. Warum ist es der CDU nicht gelungen, das in Stimmen umzumünzen?
Wersich: Stimmt. Die SPD hat ganz auf die vergangenen vier Jahre Regierungszeit gesetzt, und es ist ihr gelungen, ihre Kernbotschaft zu transportieren: Soll Scholz weitermachen oder nicht? Aussagen aus der Wirtschaft, eine SPD-Alleinregierung wäre besser als Rot-Grün, haben uns geschadet. Wir als CDU dürfen uns aber auch nichts vormachen: Unsere Fähigkeit, eine Kampagne zu führen, war nicht so, wie sie sein müsste. Wir lagen in Hamburg auch bei der Bundestagswahl 2013 weit hinter dem Bundestrend, wir haben 2014 die Europawahl verloren und sind im Mai bei der Bezirkswahl bei 23 Prozent geblieben. Da war mir klar, dass es bei der Bürgerschaftswahl mit Olaf Scholz an der Spitze eine Aufgabe wird, die viel Mut erfordert und die kaum zu gewinnen ist.

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Aber woran liegt das, dass Sie die Themen nicht auf die Straße bringen?
Wersich: Dafür gibt es verschiedene Ursachen: Ich bin im Wahlkampf oft auf die Vergangenheit angesprochen worden. Dass man den Hamburgern mit den Grünen drohen kann, hat immer noch mit dem Ende von Schwarz-Grün 2010/2011 zu tun. Es wird harte und kontinuierliche Arbeit und leider viel länger dauern, als viele gehofft haben, um als CDU das Vertrauen zu bekommen. Das Zweite ist die Kampagne: Wir können von der SPD lernen, was Mobilisierung und Geschlossenheit angeht. Das ist uns nicht gelungen. Es fehlte uns die gemeinsame Mobilisierung und Solidarität, die aber nötig gewesen wären, um erfolgreich zu sein.

Waren Sie der falsche Kandidat?
Wersich: Ich hätte sagen können, dieser Auftrag ist aussichtslos, ich bleibe in der Deckung und lasse jemand anderen verlieren. Das habe ich nicht gemacht, und es hat sich ja auch niemand aufgedrängt. Stattdessen habe ich zusammen mit vielen Mitstreitern leidenschaftlich gekämpft, bis zum letzten Tag.

Werden Sie auf das Amt des Fraktionschefs verzichten?
Wersich: Meine Aufgabe als Bürgermeisterkandidat ist mit dem Wahltag beendet. Die CDU wird rechtzeitig vor 2020 darüber entscheiden, ob sie mit mir oder einem anderen Kandidaten oder Kandidatin antreten wird. Das Wahlergebnis war eine bittere Niederlage für die CDU, aber auch persönlich für mich. In Verantwortung dafür stelle ich keine Forderungen bezüglich meiner Rolle in der neuen CDU-Fraktion. Wir haben vereinbart, in der kommenden Fraktionssitzung gemeinsam zu beraten und zu entscheiden, wer welche Aufgaben übernehmen wird.

Parteichef Marcus Weinberg tritt zurück. Überrascht Sie sein Schritt?
Wersich: Das deutete sich bisher nicht an.

Weinberg sagte, Sie beide seien gemeinsam für das Ergebnis verantwortlich. Fürchten Sie, dass sein Rücktritt den Druck auf Sie vor dem Parteitag noch erhöht?
Wersich: Wir beide übernehmen Verantwortung.

Weinbergs Konsequenz geht aber weiter. Er gibt sein Amt auf, während Sie die Entscheidung, ob Sie als Fraktionschef weitermachen, nur in andere Hände legen – die der Abgeordneten.
Wersich: Ja, so haben wir es am Dienstag gemeinsam in der Fraktion verabredet. Dabei bleibt es. Die Hamburger CDU steht jetzt am Scheideweg: Es geht darum, ob man eine kritische Analyse dieses Ergebnisses durchführt und daraus die richtigen Schlüsse zieht oder ob einfach nur ein paar Köpfe rollen sollen, und dann wird weitergemacht wie bisher.

Er gibt sein Amt auf, während Sie die Entscheidung, ob Sie als Fraktionschef weitermachen, nur in andere Hände legen – die der Abgeordneten.
Wersich: Ja, so haben wir es am Dienstag gemeinsam in der Fraktion verabredet. Dabei bleibt es. Die Hamburger CDU steht jetzt am Scheideweg: Es geht darum, ob man eine kritische Analyse dieses Ergebnisses durchführt und daraus die richtigen Schlüsse zieht oder ob einfach nur ein paar Köpfe rollen sollen, und dann wird weitergemacht wie bisher.

Es gibt Parteifreunde, die wollen Sie ganz zum Mandatsverzicht bewegen. Dadurch würde Ihr bisheriger Stellvertreter Roland Heintze nachrücken und möglicherweise auch neuer Fraktionschef werden. Schließen Sie dieses Szenario aus?
Wersich: Das Ergebnis der Wahl ist, wie es ist. Und natürlich bin ich gewählt und nehme mein Mandat an.

Wo ist denn bei dieser Auseinandersetzung Ihre persönliche Schmerzgrenze?
Wersich: Es war mein 30. Wahlkampf. Ich bin ein tief überzeugter Anhänger der CDU als Volkspartei der Mitte, und ich habe mich persönlich in allen Ämtern dafür engagiert. Die Schmerzgrenze hängt von der Art der Auseinandersetzung ab. Ich werde alles dafür tun, dass wir intern eine echte, kritische Aufarbeitung hinbekommen.

Glauben Sie, dass die Partei das auch so sieht?
Wersich: Man muss auch in der Niederlage Haltung zeigen. Im Umgang miteinander zeigt sich auch der Charakter einer Partei.

Schauen wir nach vorn. Die Hamburger CDU trägt das Label „moderne Großstadtpartei“...
Wersich: Damit kann ich wenig anfangen. Unterschiede in der Union zwischen Land und Stadt nehme ich als nicht so gravierend wahr, dass es in Städten eine andere CDU gibt als in der Fläche. Inwieweit man das Lebensgefühl einer Stadt reflektiert, ist aus meiner Sicht mehr eine Stil- und weniger eine Themenfrage. Und dazu gehört ganz klar die konservative Seite. In England oder Norwegen sind die Konservativen gerade in den Städten stark.

Formulieren wir es anders: Die Hamburger CDU ist im Wesentlichen eine liberale Partei. Ihr Polizeiexperte Joachim Lenders fordert jetzt aber einen konservativeren Kurs und sagt mit Blick auf die AfD, es dürfe rechts von der CDU keine Partei geben.
Wersich: Das sagen wir alle in der Union. Und das sehe ich ganz genauso.

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Aber jetzt ist es passiert, und zwar nach Schill schon zum zweiten Mal.
Wersich: Die CDU hat es aber geschafft, dass sich weder NPD noch Republikaner, noch Schill-Partei auf Dauer etabliert haben. Diese Aufgabe stellt sich immer wieder aufs Neue.

Aber es gibt links von der SPD eine Linkspartei und die Grünen, und trotzdem steht Scholz kurz vor der absoluten Mehrheit. Müssen Sie nicht viel stärker nach rechts wirken?
Wersich: Klare Antwort: Auf den Marktplätzen haben die Leute über Griechenland, Euro-Bonds und Pegida gesprochen. Der Erfolg der AfD ist vor allem auf europa- und bundespolitische Themen zurückzuführen und hatte nichts mit der Situation in Hamburg zu tun. Aber wir müssen immer starke Köpfe haben, die das konservative Profil deutlich machen.

Braucht es also – über die Rückgewinnung von Vertrauen und die innere Solidarität hinaus – auch eine neue Ausrichtung der CDU?
Wersich: Es geht nicht um liberal oder konservativ. Es geht darum, beides stark abzubilden. Wir sind programmatisch gut aufgestellt. Aber wir haben zu wenig Aufsehen erregt. Wir müssen daran arbeiten, dass wir stärker wahrgenommen werden. Da sind die Chancen jetzt viel besser. Olaf Scholz wird sein Wort halten und Rot-Grün machen, auch wenn manche das nicht wahrhaben wollen. Damit ändern sich die Rahmenbedingungen, und das ist für uns eine Chance zur Profilierung.