Das Jugendamt Hamburg-Mitte kommt nicht aus den Schlagzeilen
Man mag sich gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn das Jugendamt Hamburg-Mitte recht bekommen hätte. Wenn der Sachverständigen-Gutachter zu dem Ergebnis gelangt wäre, ein Verbleib der elfjährigen Jule bei ihren Pflegeeltern gefährde das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Mädchens. Wenn das Gericht dem gefolgt wäre und das bereits bei der Geburt schwer traumatisierte Kind, das mit vier Monaten zu seinen Pflegeeltern gekommen ist, nach elf Jahren in staatliche Obhut gegeben hätte. Und es damit den einzigen Bezugspersonen entrissen hätte, die es auf der Welt hat. Man mag sich das nicht vorstellen.
Aber genau das haben Mitarbeiter des Jugendamts drei Jahre lang betrieben - die Herausnahme von Jule aus ihrer Pflegefamilie, die sich aufopferungsvoll, mit aller Liebe und bis an ihre körperlichen Grenzen um das Mädchen gekümmert hat. Ein Gesundheitspfleger vom Amt, der dem Mädchen zudem noch die von Fachärzten verschriebenen Medikamente verweigerte, bekundete gar vor Gericht, dass ihm die Zeit fehlte, das Pflegekind persönlich kennenzulernen - und erwog acht Wochen später eine Fremdunterbringung von Jule bis zum Abschluss des Verfahrens. Und im Nachhinein verdanken es die Pflegeeltern wohl nur einem glücklichen Zufall, dass sie mit Jule nicht zu Hause waren, als der Kinder- und Jugendnotdienst plötzlich an der Haustür klingelte, um das Mädchen zu holen. Vier Wochen nachdem die elfjährige Chantal in Wilhelmsburg in der Wohnung ihrer Pflegeeltern an einer Methadon-Vergiftung gestorben war.
Was man sich dagegen vorstellen möchte, ist Folgendes: Was wäre passiert, wenn die betreffenden Mitarbeiter des Jugendamts Hamburg-Mitte in exakt diesen drei Jahren von 2009 bis 2012 ihre ganze Kraft und ihr nicht nachlassendes Engagement auf zwei andere Fälle konzentriert hätten? Lara Mia wog nur noch 4,8 Kilo, als sie im März 2009 mit neun Monaten gestorben ist. Ihre 19-jährige Mutter hatte sie verhungern lassen. Das Jugendamt hat nichts bemerkt. Es ist auch den Hinweisen über die drogenabhängigen Pflegeeltern von Chantal nicht genügend nachgegangen, um das tragische Unglück zu verhindern.
Und nun also schon wieder das Jugendamt Hamburg-Mitte. Was ist da los? Mitarbeiter vom Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) beklagen anonym immer wieder eine schlimme Unterbesetzung, um die auftretenden Fälle einigermaßen unfallfrei bearbeiten zu können. Sie haben oft mehr als 100 Akten auf dem Tisch, die ganz unterschiedliche Anforderungen an sie stellen. Hier könnte die Politik sofort handeln. Sie könnte außerdem durch eine Anhebung der Bezüge den Beruf des Sozialarbeiters im Jugendamt attraktiver machen.
Der "Fall Jule" aber liegt anders. Hier ging es um Macht. Hier wollte man unbequeme Pflegeeltern, die ihre Rechte bestens kennen, in die Schranken weisen. Hier wurde der Pflegemutter eine psychische Krankheit unterstellt, weil sie Jule angeblich zu vielen Ärzten vorgestellt hat. Eine perfide Falle: Hätte sie das nicht getan, hätte man ihr ebenfalls Kindeswohlgefährdung vorwerfen können.
Man darf gespannt sein, wie dieser Fall aufgearbeitet wird. Der neue Jugendamtsleiter ist gefordert. Mit dem Abendblatt wollte Peter Marquard über den Fall bisher nicht sprechen. Muss er auch nicht, kann ja noch kommen. Dass er den Pflegeeltern ihren Gesprächswunsch verweigert, macht wenig Hoffnung auf einen Neuanfang im Jugendamt Hamburg-Mitte.