Drochtersen. Zehn Minuten vor Abpfiff erzielt Robert Lewandowski den 1:0-Siegtreffer für Rekordmeister und Rekordpokalsieger Bayern München.
„Wir glauben an Wunder“, prangt auf einem Banner, das der fußballbegeisterte Pastor Bernhard Pippirs vor dem „Jahrhundertspiel“, den schier überirdischen Bayern zur Warnung, an der Kirche in Drochtersen anbringen ließ. „Wunder gibt es immer wieder“, sang Katja Ebstein 1970. 48 Jahre später ist der Amateur-Club SV Drochtersen/Assel in der 1. Hauptrunde des DFB-Pokals beim 0:1 gegen Rekordmeister und Rekordpokalsieger FC Bayern München tatsächlich nur knapp an einem Wunder vorbei geschrammt.
Wer weiß, hätte der von Kapitän Sören Behrmann in der 33. Minute im Strafraum perfekt freigespielte Florian Nagel die Nerven behalten und den Ball aus zehn Metern an Torwart Manuel Neuer vorbei ins Bayern-Tor geschossen, dann wäre eine der größten Sensation im deutschen Fußball möglich gewesen. Weil das blitzschnell von Weltmeister Neuer herausgestreckte Bein etwas dagegen hatte, wird sich Nagel nun fragen: „Warum kommt das Glück nicht zu mir?“, wie es in der dritten Textzeile des Evergreens heißt.
Ein kesser Spruch mit Vereinslogo an der Kirche, die Landstraße von Stade nach Drochtersen mit zig rot-blauen Vereinsflaggen geschmückt, Fernsehteams, Fotografen und Journalisten von Printmedien, die sich tagelang die Klinke in die Hand gaben, ein Maurer – der „Mörtel“ gerufene Außenverteidiger Meikel Klee –, der mit der Kelle in der Hand und flotten Sprüchen zum Medienstar avancierte – seit Wochen stand das ganze Dorf, die gesamte 11.000-Seelen-Gemeinde Drochtersen in freudiger Erregung Kopf. Sören Behrmann, Kapitän des 1977 gegründeten reinen Fußballvereins SV Drochtersen/Assel, musste sich sogar Urlaub nehmen, um die zahlreichen Medienanfragen bewältigen zu können. Es herrschte Ausnahmezustand hinterm Kehdinger Deich!
Vor dem Spieltag hatten einheimische Spaßvögel des Nachts den Zusatz „Fußballgroßstadt“ aufs Ortsschild von Drochtersen geschrieben. Im Vorort Ritsch stellte ein Hausbesitzer in einem Anflug von norddeutschem Humor eine mit Wasser gefüllte Badewanne in seinen Vorgarten und hängte das Schild „Ermüdungsbecken für den FC Bayern“ daran. Die Installation im Joseph-Beuys-Stil schien den Spielern des Bayern nicht Warnung genug gewesen zu sein – so behäbig schlich das mit Stars gespickte Ensemble in der ersten Halbzeit über das satte Grün im Kehdinger Stadion.
Dabei hatte Drochtersens Vereinsboss Rigo Gooßen vor dem Spiel noch geunkt: „Als ich die Bayern-Aufstellung gesehen habe, wurde mir angst und bange.“ Sein Tipp? „Ich glaube, wir kriegen acht Dinger.“ Nicht viel optimistischer zeigte sich Archivar Egon Possel, der oft einen guten Riecher für den Spielausgang hat: „6:1 für Bayern. Unser Tor durch Neumann.“
Doch die größte Chance zum vermeintlichen Ehrentreffer sollte Florian Nagel nach gut einer halben Stunde bekommen. Neuers Parade zum Trotz skandierten die Kehdinger Fans übermütig „Zieht den Bayern die Lederhosen aus“ und verabschiedeten Arjen Robben nach dessen mit Gelb bestraftem Foul an Nagel mit Buhrufen in die Kabinen.
„In Drochtersen ist der Teufel los“, dröhnte der Vereins-Gassenhauer in der Halbzeitpause aus den Lautsprecherboxen. „Sensationell“, brüllte DA-Stadionsprecher Dirk Ludewig völlig losgelassen ins Mikrofon, „unser Trainer Lars Uder hat die Mannschaft super eingestellt.“ Tatsächlich schien sich das erste nicht-öffentliche Training der Vereinsgeschichte des Regionalligisten, wie ein co-moderierender Radio-Spaßmacher ulkte, gelohnt zu haben – an Uders 5-4-1-Mauertaktitik biss sich der uninspirierte wirkende Meister bis zur 81. Minute die Zähne aus. Dann traf Robert Lewandowski.
Zwischenzeitlich hatten die Bayern-Ultras an den Zäunen gezerrt, rot-weiße Wasserbälle, Tennisbälle sowie Papierschlangen auf den Rasen geworfen und den DFB kräftig beschimpft. „Wir fühlen uns vom DFB nicht ernst genommen“, sagte ein Ultra, „während unserer Treffen mit dessen Vertretern beschließen die sogar Montagsspiele in der 3. Liga.“
Nach dem Abpfiff waren alle zufrieden. Die Bayern, auch deren Ultras, weil sie noch gewonnen hatten. Die Gastgeber, weil sie sich in ihrem „Jahrhundertspiel“ besser als erhofft verkauft hatten. „Zur Pause haben wir ein bisschen Hoffnung gehabt“, sagte Florian Nagel nach der knappen Niederlage, „letztendlich ist Bayern verdienter Sieger, aber unser verletzter Spieler hebt beim Tor das Abseits auf.“ Außerdem hätte Thiago ihn vor dem 0:1 mit dem Arm runter gezogen: „Wie das Tor gefallen ist, war sehr unglücklich.“ Auch Meikel Klee, der nach dem verlorenen Duell gegen Ribery Sekunden vor dem Treffer zu Fall gekommen war, haderte etwas: „Ich hatte den Zweikampf mit Ribéry eigentlich schon gewonnen, kriege dann im Laufduell seinen Ellenbogen mit, sehe nichts mehr. Dass wir nur ein Gegentor kriegen, hätte ich nie gedacht. Darauf können wir stolz sein.“
Mit dem Abpfiff und der anschließenden Party endeten die Pokal-Festspiele in Drochtersen, womöglich für lange Zeit. Bei den Teilzeitfußballern der SV Drochtersen/Assel kehrt wieder der Alltag ein. Für Maurer Meikel Klee heißt das: Montagfrüh um 5 Uhr aufstehen, um 5.45 Uhr in der Firma sein. Von dort geht‘s dann los zur Baustelle ins 20 Kilometer entfernte Burweg.