Hamburg. Sie sind verwunschen und unheimlich: Lost Places wie diese beiden verlassenen Gebäude in Wilhelmsburg.
Seit hier kein Zolldurchlass mehr die Zufahrt zur Köhlbrandbrücke verlangsamt, nimmt ein Autofahrer die beiden Häuser auf der linken Seite kaum noch wahr. Denn der Verkehr fordert die volle Aufmerksamkeit. Dabei sind sie die letzten Zeugnisse eines ehemals quicklebendigen Quartiers: Neuhof, im Hafenboom der Gründerzeit rasant von der Milchbauerninsel zum urbanen Industriestadtteil der Stadt Wilhelmsburg hochgezogen und im Hafenboom der Container-Ära wieder verschwunden. Zugegeben: Zwei Sturmfluten halfen da auch noch mit.
Das Eckhaus Neuhöfer Brückenstraße/Neuhöfer Damm ist sogar noch bewohnt. Flaggen in den Fenstern und die Autokennzeichen auf dem Hof lassen auf Bewohner aus Osteuropa schließen – wie in der Gründerzeit, als Hafen und Industrie deutlich mehr Arbeiter benötigten, als in Norddeutschland zur Verfügung standen und Wilhelmsburg durch polnische Zuwanderung eine starke katholische Prägung erhielt.
Ehemalige Neuhöfer Schule unter Denkmalschutz
Etwas weiter in Richtung Brückenauffahrt befindet sich die ehemalige Neuhöfer Schule. Sie steht unter Denkmalschutz. Das sieht man ihr allerdings nicht wirklich an. Vandalismusschäden an Fenstern und Wänden lassen etwas anderes vermuten, beklagt auch der Hamburger Denkmalverein: „Mit jedem Jahr verschlechtert sich die Bausubstanz“, monierte Kristina Sassenscheid, Geschäftsführerin des Vereins, bereits 2018. „Obwohl Fenster und Türen im Erdgeschoss verriegelt wurden, gibt es regelmäßig neue Schäden.“
Sassenscheid schreibt im Denkmal-Exposé auch, warum die Schule erhaltenswert ist. Da ist zum einen die Bausubstanz selbst, ein Zeugnis der Fritz-Schumacher Ära. Auch wenn Schumacher als Hamburger Oberbaumeister seinerzeit noch nicht für Wilhelmsburg zuständig war, hat er doch zahlreiche Stadtplaner und Architekten seiner Zeit beeinflusst.
„Die rote Backstein-Fassade wird durch die geometrische Anordnung großer Fensterflächen und eine zurückhaltende Ornamentik gegliedert“, sagt Sassenscheid. „Die alten Schul-Grundrisse wurden in den 1990er Jahren für die Nutzung als Unterkunft angepasst, große Räume verkleinert und neue Sanitärräume eingerichtet. Davon abgesehen ist das Baudenkmal bis heute weitgehend unverändert.“
Grundschule dokumentiert einstiges Arbeiterquartier Neuhof
Zum anderen ist das Gebäude laut Denkmalverein aufgrund seiner historischen Bedeutung so erhaltenswert. „Als in den 1970er Jahren der ehemalige Stadtteil Neuhof für den Bau der Köhlbrandbrücke abgerissen wurde, ist auch die Grundschule des Stadtteils geschlossen worden und dokumentiert bis heute das einstige Arbeiterquartier“, so Sassenscheid.
Lesen Sie auch:
- Mountbatten - ein Wrack mit vielen Geschichten
- Die verlassene Eisenbahn-Brücke in Hollenstedt
- Vom vergessenen Bergwerk in den Harburger Bergen
- Eine Schleuse, die kein Schiff mehr passiert
Die industrielle Revolution bedeutete für Hamburg, dass sich die Hamburger Wirtschaft über die damaligen Stadtgrenzen hinaus ausdehnte – und zwar nach Bahrenfeld, Barmbek, Harburg und Wilhelmsburg. Mit der Schaffung des Hamburger Freihafens ab 1860 mussten alte Arbeiterviertel im Hafenbereich abgerissen und neue an seinem Rand geschaffen werden. Die Veddel entstand so, die untere Neustadt und auch Neuhof.
Werften Oelkers und Vulkan waren größten Arbeitgeber
Zwischen 1911 und 1914 baute die Neuhöfer Wohnstättengesellschaft 84 vierstöckige Wohnhäuser mit 966 Wohnungen. Viele der neuen Neuhöfer kamen aus Pommern, wo es keine Arbeit gab. Hier waren zunächst vor allem zwei Werften dominant: Oelckers, der 1888 anfing, am Reiherstieg Schiffe zu bauen und die Vulkan-Werft, auf Neuhof nur „Der Vulkan“ genannt, die ab 1906 am Rosskanal Schiffe baute, unter anderem die SMS „Imperator“ und „Friedrich der Große“.
Die Werften blieben auch lange der Identifikationspunkt der Neuhöfer. In den zwei Straßen des Quartiers lebten stets etwa 3000 Menschen, und auch wenn die 84 Häuser sich glichen, wie ein Ei dem anderen, gab es in den Häusern doch soziale Unterschiede: Die Meisterwohnungen hatten ein eigenes Badezimmer, die Arbeiterwohnungen die Toilette auf halber Treppe.
„Die Neuhöfer haben immer zusammengehalten“, sagt Ralf-Dieter Fischer, Harburger CDU-Politiker. Er spielte einst Fußball beim SV Neuhof. „Ich habe selbst auf der anderen Seite des Reiherstiegs gewohnt, aber ich wurde hier gut aufgenommen. Besonders war der Zusammenhalt zu spüren, wenn wir mit der Trajekt-Fähre zum Auswärtsspiel nach Altenwerder mussten. Da war nicht nur fußballerische Fitness gefragt. Und legendär waren auch die Feiern bei Adomeit.“
Willi Adomeit Junior war Wilhelmsburgs erster Discotheken-Wirt und ist bis heute eine Gastro-Legende. Seine Gäste kamen von nah und fern nach Neuhof. Nachdem der Stadtteil abgerissen wurde, verlegte er seine Disco nach Harburg an die Außenmühle.
Sturmflut von 1962 besiegelt Schicksal des Stadtteils
Die offizielle Version vom Ende des Stadtteils Neuhof ist, dass die Sturmflut von 1962 die meisten Häuser unbewohnbar machte. Allerdings wurde die Hafenerweiterung, der Neuhof und Altenwerder zum Opfer fielen, bereits im Herbst 1961 und damit drei Monate vor der Flut beschlossen. Nach 1962 wurde die Katastrophe allerdings gern als Argument genutzt. Teil der Hamburger Hafenerweiterung war der Bau der Köhlbrandbrücke. Schmutz, Lärm und Rammschlagvibrationen zermürbten die verbliebenen Neuhöfer. Die Sturmflut von 1976 gab dem Stadtteil den Rest. 83 Häuser wurden abgerissen und durch Industrie ersetzt.
Zwei sind geblieben. Wenn man es nicht eilig hat, auf die Brücke zu kommen, sieht man sie im linken Autofenster.