Hollenstedt. Die um 1900 gebauten Konstruktionen sind Relikte eines einst verzweigten Bahnnetzes in der Region und jetzt Auftakt einer Serie.
Sie sind versteckt, verwunschen, unheimlich: die verlassenen Orte im Landkreis und Bezirk Harburg. Das Abendblatt stellt sie in lockerer Folge vor: Hidden Places. Zum Auftakt geht es nach Hollenstedt...
Es ist nur ein leichtes Ruckeln, das man vielleicht bemerkt, wenn man in Moisburg-Staersbeck auf die kleine Straße Richtung Regesbostel ganz im Westen des Landkreises Harburg abbiegt. Wer dort kurz anhält, um nach der Ursache zu suchen, entdeckt Reste einer Schiene mitten in der Fahrbahn. Und wenn man dann genauer hinschaut, erst rechts und dann links der Straße, lässt sich bald erkennen, dass das scheinbar dort wildwachsende Gebüsch hier einer Art Spur folgt: Ein Damm, der in der Mitte weniger bewachsen ist als am Rand, so dass Bäume und Büsche fast die Anmutung eines Tunnels formen.
Im alten Bahnhof arbeitet jetzt ein Pflegedienst
Und wer dann noch weiter eintaucht, auf diesem Damm nach Osten spazieren geht, hat bald schon Schotter unter den Schuhen: Und dann ist er unvermittelt zu sehen: Ein riesiger Viadukt aus Backsteinen, der wie aus dem Nichts plötzlich hier aufragt: eine verlassene Eisenbahnbrücke mit hohen, gemauerten Bögen, die hier in fast 20 Meter Höhe über den Bach Staersbeck führt, der da munter sprudelnd durch einen Wald rauscht.
Man könnte nun hinter der Brücke weiter Richtung Osten spazieren, schnurgerade führt dieser Damm in unterschiedlicher Höhe durch die Landschaft über etwas mehr als drei Kilometer bis Hollenstedt, wo es noch das ehemalige Bahnhofsgebäude gibt, das heute Sitz eines Pflegedienstes ist. Und nicht weit weg von dort, ganz am Ende eines schmalen Pfades an der Hollenstedter Schule, spannt sich urplötzlich wieder ein solcher, mächtiger Viadukt, diesmal über die Este. Beide Brücken-Konstruktionen sind Relikte einer Zeit, die in Sachen Nahverkehr im Grunde schon viel weiter war als heute, wo man sich aus den Dörfern im Autostau zum Job in die größeren Städte quälen muss.
Bahnen waren so etwas wie die wirtschaftlichen Schlagadern
Um 1900 herum gab es in der Region noch ein vielverzweigtes Bahnnetz, das auch kleine Orte anschloss. Rüben, Zucker oder auch Schlachtvieh wurden hier transportiert, die Bahnen waren so etwas wie die wirtschaftlichen Schlagadern. Und sie waren wichtiges Transportmittel für Fahrgäste. Heute hätte das Netz daher Basis für einen modernen öffentlichen Nahverkehr mit kleinen Bahnen sein können, vielleicht mit Wasserstoff betrieben: Ein modernes Verkehrsmittel, das einfach den alten Verbindungen folgt.
Doch viele Schienen und Bahnen auf dem Land sind meist seit Mitte des 20. Jahrhunderts schon verschwunden, als sich das Auto immer mehr durchsetzte. Die Backstein-Eisenbahnbrücken bei Hollenstedt sind damit eine der wenigen letzten Zeugen dieser regionalen Bahngeschichte. Sie gehörten zu einer Strecke, die ursprünglich Teil einer geplanten Fernverbindung von Bremerhaven bis nach Berlin war. Sie führte dann aber zunächst von Bremervörde bis Buchholz.
Die 57 Kilometer lange Verbindung war Ende des 19. Jahrhunderts angelegt worden. Schon damals benötigte man Gastarbeiter aus Italien, um die drei Viadukte und ihre vorgelagerten Dämme zu errichten. 1902 nahm der Eisenbahnbetrieb auf der Strecke dann Fahrt auf. Bereits 1905 wurden am Bahnhof Hollenstedt 9000 Fahrgäste gezählt, 1935 waren es schon 35.000.
Doch in den 1960er Jahren begann der Niedergang, die Passagierfahrt wurde eingestellt und zuerst der Abschnitt zwischen Hollenstedt und Buchholz unterbrochen, weil sie einer Verbreiterung der Autobahn 1 im Weg stand. Später wurde dann auch die restliche Strecke stillgelegt, so wie viele andere auch.
1997 gab es hier eine letzte „Erinnerungsfahrt“
Eine neue Blüte erlebte aber der alte Abschnitt zwischen Bremervörde und Buxtehude, der heute eine wichtige Verbindung vieler Pendler zur Hamburger S-Bahn ist – und damit zeigt, was andere Strecken hätten sein können. Eingesetzt wird dort im Übrigen eine der weltweit ersten Wasserstoff-Loks! Die Viadukte von Staersbeck und Hollenstedt aber gerieten in Vergessenheit.
Im August 1997 hatte es noch eine letzte, historische Erinnerungsfahrt mit einer „Schienenbusgarnitur VT 798“ bis Hollenstedt gegeben. Schienen und Untergrund waren da schon so marode, dass der „Rote Brummer“ – wie solche Fahrzeuge von Bahnfans bezeichnet werden – teils nur in Schrittgeschwindigkeit über Dämme und Brücken ruckeln konnte.
Auf Youtube lässt sich das heute anschauen
Im Internet lässt sich das auf Youtube noch heute anschauen. Der rote Triebwagen schob sich da bereits durch dichtes Gebüsch, das wohl eher an eine Dschungelbahn erinnerte. Kurzfristig gab es in Hollenstedt dann noch die Überlegung, ob die Strecke nicht touristisch genutzt werden könnte. Etwa indem man sie für die Benutzung mit Draisinen erhält, mit der dann Touristen und Tagesausflügler die ländliche Region Norddeutschlands aus ungewöhnlichem Blickwinkel erleben könnten. Doch der Gedanke wurde bald schon verworfen. man befürchtete vor allem zu hohe Kosten. Ein paar Jahre später dann wurden auch die Schienen abgebaut, die Viadukte von Hollenstedt und Staersbeck verschwanden endgültig im Dickicht der wachsenden Büsche und Bäume. Immerhin aber: Seit ein paar Jahren stehen sie unter Denkmalschutz und bleiben so dem Betrachter erhalten.