Hausbruch. Ähnlicher Fall hatte 2023 zum Tod eines Jungen geführt. Mutter schildert verstörende Szenen – Schulbehörde und Schulleitung schweigen.

Es ist ein Albtraum für jede Mutter, jeden Vater: Das eigene Kind ist verschwunden! Claudia Hoppe ist das jetzt zweimal kurz hintereinander passiert. Dabei wähnte sie ihren Sohn an einem sicheren Ort: In der Schule, und zwar in einer Schule, die auf Kinder mit besonderen Herausforderungen spezialisiert ist. Der neunjährige Marlon ist Autist.

„Mein Sohn besucht die 3. Klasse der Schule Nymphenweg, Zweigstelle Haake“, sagt Claudia Hoppe. „Erst im Oktober zog die Klasse, zusammen mit allen anderen Kindern der Grundstufe in den Neubau in Hausbruch. Kurz darauf verließ Marlon das Schulgelände zum ersten Mal unbemerkt. Jetzt, Ende Januar, verschwand er erneut aus der Schule.“

Autistischer Junge büxt zweimal aus: Barfuß und ohne Jacke zwei Kilometer durch die Kälte

Beide Male verließ Marlon zunächst unbemerkt den Klassenraum. Eine Tür gibt es dort nicht. Dann öffnete er einen Notausgang und spazierte auf Socken und ohne Jacke über den Schulhof und kletterte über den Zaun in die weite Welt. Bis sein Fehlen in der Klasse auffiel, war er schon außerhalb des Schulgeländes.

Das erste Mal fand ihn ein Erzieher im 8. Stock eines nahen Hochhauses. Durch einen glücklichen Zufall hatte der Pädagoge auf Anhieb den richtigen von acht Notausgängen erwischt und war gleich auf Passanten getroffen, die Marlon gesehen hatten.

Beim zweiten Mal kam Marlon schon weiter: Er unterquerte die Bahngleise, überquerte die viel befahrene Cuxhavener Straße. Dort, ungefähr beim Subway-Imbiss, zwei Kilometer von der Schule entfernt, griffen aufmerksame Erwachsene das barfüßige und auch ansonsten angesichts der Minusgrade zu leicht bekleidete Kind auf und verständigten die Polizei. Die war bereits von der Schule alarmiert worden.

Schule verständigt die Eltern nicht über das Verschwinden ihres Sohnes

Beim ersten Verschwinden wurden die Eltern nicht informiert. Marlons Vater wollte den Jungen abholen und erfuhr zufällig, dass ein Kind vermisst wurde und ebenso zufällig, dass es sein Sohn war. Kurz darauf war Marlon allerdings schon gefunden. Beim zweiten Mal wurde die Mutter informiert, als die Schule die Polizei eingeschaltet hatte.

„Ich denke, Marlon ist nicht das einzige Kind, das hier ab und zu auf eigene Faust herausgeht“, sagt Claudia Hoppe. „Man erfährt zwar wenig, aber man hört viel.“

Zehnjähriger ertrinkt in der Elbe: Gerade ein Jahr ist der tragische Unfall her

Erst vor etwa einem Jahr war ein zehnjähriger autistischer Junge aus dem Marmstorfer Standort der Schule Nymphenweg weggelaufen und bis Finkenwerder gekommen. Dort fiel er in die Elbe und ertrank.

Die Schule Nymphenweg ist eine Förderschule für Kinder mit besonderen Lernbedarfen. Über viele Jahre war die Schule Nymphenweg direkte Nachbarin der Schule Elfenwiese, eine Förderschule für Schüler mit körperlichen Behinderungen. An beiden Schulen sind die Schülerzahlen stark gestiegen.

Den Plan, dass die Schule Nymphenweg nach Hausbruch umzieht, gibt es deshalb schon länger. Die Grundschulklassen im Nymphenweg kooperierten bereits über Jahre integrativ und inklusiv mit der Grundschule „An der Haake“. 

Klassen-Türen gibt es nicht – Notausgänge haben Griffe auf Kinderhöhe

Die Eltern der Nymphenweg-Schüler begrüßten den Umzug der Schule deshalb – eigentlich. Gleichzeitig äußerten sie Bedenken, weil die erforderlichen Neubauten und Provisorien am neuen Standort noch längst nicht fertig waren. Teile des Umzugs wurden deshalb bis zum Oktober 2023 verschoben. Das war immer noch zu früh, findet Claudia Hoppe. „Der Neubau war zum Zeitpunkt des Umzugs weder fertig, noch wurden bis heute die zwingend notwendigen baulichen Veränderungen durchgeführt“, sagt sie.

Was Claudia Hoppe besonders kritisiert: „Sämtliche Ausgänge des oben erwähnten Neubaus haben Türgriffe auf Kinderhöhe – und die Schulbehörde sieht hier keinen Bedarf, diesen Umstand nachzubessern und /oder die Türen auszutauschen.“

Schulbehörde bittet um Fragen per E-Mail – und antwortet dann nicht

Mitarbeiter der Schule bestätigen, dass sowohl sie als auch die Schulleitung diesen Umstand schon länger kritisiert und Notausgänge gefordert hatten, deren Griffe höher liegen als die, die etwa in Kindertagesstätten verbaut sind. Die Schulleitung wollte sich dem Abendblatt gegenüber nicht äußern und verweist auf die Pressestelle der Schulbehörde. Dort ziehen die Behördensprecher das Schweigen vor. Auf telefonische Nachfrage baten die Auskunftsbeamten darum, die Fragen per E-Mail zu bekommen. Die entsprechende E-Mail ist seit einer Woche unbeantwortet.

Und in der Schule selbst? Werden nach Abendblatt-Informationen seit einigen Tagen Klassenraumtüren nachgerüstet. Die hingen nicht etwa bis jetzt in der Lieferkette fest, sondern waren hier nicht vorgesehen: Lange vor dem Umzug hatten sich Pädagogen, die mittlerweile nicht mehr an der Schule tätig sind, ein „offenes Konzept“ für den Neubau gewünscht.

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Das Fehlen der Klassenraumtüren erwies sich nicht nur aus Sicherheitsgründen als problematisch. Gerade reizoffene Kinder – und das betrifft viele Kinder der Schule Nymphenweg – zeigten sich schnell irritiert, wenn es auf dem Flur oder in einer Nachbarklasse einmal laut wird. Wenn eine Klasse mit zwei Pädagogen betreut wird, ist einer damit beschäftigt, auf die Türöffnung zu achten, berichten Mitarbeiter. Die pädagogische Arbeit leide darunter.

Claudia Hoppe sieht und versteht, dass die Schule durch den Neubau vor besonderen Herausforderungen steht. „Aber man muss doch sein Kind in die Schule bringen können, ohne Angst zu haben, dass etwas passiert“, sagt sie.