Harburg. Gebetsrollen aus der geplünderten Synagoge machen den Judenhass von einst sichtbar. Ausstellung im Stadtmuseum.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 und den Folgetagen wurden deutsche Synagogen in Brand gesteckt, geplündert, zerstört. Auch die Synagoge an der Eißendorfer Straße erlitt dieses Schicksal. Mit ihr ging in Harburg die jüdische Gemeinde unter.

Im Zusammenhang mit dem bundesweiten Aktionsjahr „2021 – Jüdisches Leben in Deutschland“ haben die Geschichtswerkstatt Harburg, das Stadtmuseum Harburg und Wissenschaftler der Universität Hamburg ein besonderes Relikt aus der Zeit untersucht und ihm Geheimnisse entlockt: drei Thora-Fragmente, die höchstwahrscheinlich von einer der Gebetsrollen stammen, die damals in der Synagoge lagerten.

Relikte der Gebetsrollen sind historisch wertvoll

Die drei Pergament-Fetzen – der größte misst etwa zehn mal 20 Zentimeter – hatte Klaus Barnick von der Geschichtswerkstatt zusammen mit einem Brief dem Historiker im Stadtmuseum Harburg, Jens Brauer, gezeigt. Der Brief stammt aus dem Jahr 1965 und richtete sich an den Mitarbeiter des Helms-Museums Hans Drescher. Der Autor bat Drescher, die Fragmente zu untersuchen, um mehr über sie zu erfahren.

Es hieß, sie seien 1938 von der Straße aufgelesen worden. Auch im Archiv des Stadtmuseums fand sich die Korrespondenz. Sie stammt aus dem Nachlass Dreschers, der 2019 verstorben war. Alles deute darauf hin, dass die Thora-Fragmente mit dem Angriff auf die Harburger Synagoge in Zusammenhang stehen, so Brauer.

Stadthistoriker Jens Brauer steht an der Ausstellungstafel, die die Rekonstruktion der Hetzschrift auf den Thora-Fragmenten zeigt.
Stadthistoriker Jens Brauer steht an der Ausstellungstafel, die die Rekonstruktion der Hetzschrift auf den Thora-Fragmenten zeigt. © HA | Angelika Hillmer

Die Relikte der Gebetsrollen sind per se historisch wertvoll. Doch sie sind nicht nur Zeitzeugen einer in Harburg lebenden jüdischen Glaubensgemeinschaft, sondern Kronzeugen von Hass und Gewalt gegen Juden. Vom Antisemitismus, der, angefacht von der Propaganda der Nationalsozialisten, bis ins Unmenschliche entgleist war. Denn auf den Rückseiten der Fragmente standen Hetzinschriften, die später wieder getilgt worden waren. Und das so gründlich, dass von ihnen nur undeutliche Spuren zurückgeblieben waren.

Zunächst versuchte Jens Brauer, die abgeschabten, abgewaschenen Buchstaben mit Bordmitteln – Bildbearbeitungsprogrammen auf seinem Computer – zu entziffern. „Auf dem ersten Element war gar nichts zu erkennen. Auf dem zweiten ließ sich das Wort Jude oder Juda entziffern. Auf dem dritten Fragment war nur zu erkennen, dass dort mal etwas stand“, sagt Brauer.

Verschwundener Text wieder sichtbar gemacht

Er wendete sich an ein forensisches Schriftlabor. Dort werden verblasste oder sonst wie „verloren gegangene“ Schriften mit multispektralem Licht (Lichtstrahlen mit verschiedenen Wellenlängen) erhellt, um Verschwundenes sichtbar zu machen. Es stellte sich heraus, dass auf einem Fragment ein Vierzeiler gestanden hatte. Dessen letzte Zeile lautete: „fordert Sühne“.

Das passt in die Zeit der Pogromnacht vom 9./10. November 1938. Am 7. November hatte es ein Attentat auf den Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Paris Ernst vom Rath gegeben. Vom Rath erlag am 9. November seinen Verletzungen. Der Mörder war der 17-jährige polnische Jude Herschel Grünspan. Über seine Motive gibt es verschiedene Aussagen. Tatsache ist: Die Nationalsozialisten deuteten den Mord um als Angriff des jüdischen Volkes auf das deutsche Volk und begründeten damit die Plünderungen und Brandschatzungen des Novemberpogroms.

Harburg: Leichenhalle auf jüdischen Friedhof in Brand

Die Nazis sinnten auf Rache, forderten Sühne für den Mord an vom Rath. So stand es in den gleichgeschalteten Zeitungen vom 8. November und auf Plakaten. Und so stand es offenbar auch auf dem Harburger Thora-Fragment. In Harburg demolierten NSDAP-, SA- und HJ-Angehörige die Synagoge, setzten die Leichenhalle auf dem jüdischen Friedhof am Schwarzenberg und einen Leichenwagen in Brand, plünderten zahlreiche jüdische Geschäfte in der Innenstadt.

Das rekonstruierte Portal erinnert an die Harburger Synagoge.
Das rekonstruierte Portal erinnert an die Harburger Synagoge. © Hillmer/HA | Angelika Hillmer

Um noch mehr über die Hetzereien herauszufinden, wendet sich Brauer an Experten, die mittelalterliche Schriften entziffern, am „Centre for the Study of Manuscript Cultures“ der Universität Hamburg. Sie entdeckten im Lichtspektrum auf der „blanken“ Rückseite des größten Fragments, in der oberen rechten Ecke, gleich einen ganzen Text: „Schade daß er nicht tod ist sagt der Jude Herschel Grünspan über seinen Mord an vom Rath. Ich tue das nicht aus mich heraus sondern im Namen des Jüdischen Volkes“. Hier werde tagesaktuelle Hasspropaganda sichtbar, kommentiert Stadthistoriker Brauer das Ergebnis. „Es zeigt die Dynamik der damaligen Ereignisse und die Kraft der Propaganda.“

Thora-Fragmente sind historischer Bestandteil

Die Thora-Fragmente sind ein historischer Bestandteil der Sonderausstellung zum jüdischen Leben in Harburg. Aber sie sind natürlich nur einer von vielen Aspekten und markieren den damaligen Endpunkt dieses Lebens. Wie andernorts waren Einwohner jüdischen Glaubens gesellschaftlich integriert und wirtschaftlich erfolgreich zugunsten aller Stadtbewohner.

Brauer: „Ende des 19. Jahrhunderts gab es eine Säkularisierung der Gesellschaft, die Religionszugehörigkeit verlor an Bedeutung.“ Eine Ausarbeitung der Geschichtswerkstatt zeigt das einträchtige Nebeneinander von christlichen und jüdischen Geschäften. Es wurde in den 1930er Jahren erstickt durch die Nazi-Propaganda „Kauft nicht bei Juden“. Das war bekanntlich nur der Anfang eines weit größeren Unheils.

Die Ausstellung:

  • Die jüdische Gemeinde in Harburg zählte im frühen 20. Jahrhundert 335 Mitglieder, bis sie 1938 nach dem Novemberpogrom ganz verschwand und heute fast in Vergessenheit geraten ist. Ihr widmet sich die Sonderausstellung „Orte Jüdischen Lebens in Harburg“ im Stadtmuseum an der Knoopstraße (Museumsplatz 2). Sie läuft bis zum 17. Oktober. Jeden Freitag (14 bis 15 Uhr) im August gibt es Führungen. Anmeldung: 040/428 71 24 97.
  • Mehr als 300 Jahre alt ist die jüdische Geschichte Harburgs. Nachweislich vergab Harburg 1610 Schutzbriefe an Juden. Bürgerliche Rechte erhielten sie nicht, sondern waren deutlich schlechter gestellt.
  • Die Ausstellung ist ein Gemeinschaftsprojekt des Stadtmuseums Harburg, der Geschichtswerkstatt Harburg und der Initiative Gedenken in Harburg.