Harburg . Leukämie hätte Stephan Leonhard fast das Leben gekostet. Dann fand sich ein genetischer Zwilling. Jetzt traf sie sich zum ersten Mal.

Dezember 2016. In der ElbLOGE im Harburger Binnenhafen lassen sich bei einer Typisierungsaktion der Deutschen Knochenmarkspenderdatei (DKMS) 321 Personen durch einen einfachen Wangenabstrich als Stammzellenspender erfassen. Initiator der Aktion ist der Harburger Stephan Leonhard. Er ist an Leukämie erkrankt. Die Krankheit ist weit fortgeschritten. So weit, dass Stephan sterben wird, wenn nicht in kürzester Zeit ein Spender für ihn gefunden wird.

Zur gleichen Zeit bekommt der Nürnberger Student und Webdesigner Jeff Chi Post von der Deutschen Stammzellspenderdatei (DSD). In dem großen braunen Umschlag ein förmliches Schreiben, in dem ihm mitgeteilt wird, dass er als potenzieller Spender in Frage kommt. Der 26-Jährige hat sich vor zehn Jahren als Stammzellenspender registrieren lassen. Er hätte nie damit gerechnet, dass er einmal die Chance bekommen wird, einem Menschen das Leben zu retten. Die Wahrscheinlichkeit, innerhalb der folgenden zehn Jahre nach einer Registrierung zum Stammzellspender zu werden, liegt bei nur rund 1,5 Prozent. Jeff Chi macht einen Termin bei seinem Hausarzt. Er soll sich noch einmal Blut abnehmen lassen, um sicher zu gehen, dass alles passt.

April 2019. An der Nürnberger U-Bahn-Haltestelle Aufseßplatz nehmen sich zwei Männer in den Arm. Sie haben sich noch nie zuvor gesehen. Und sie kennen sich kaum. Doch die beiden verbindet das Leben. Der eine hat es dem anderen geschenkt. „Ich hätte die Krankheit nicht ohne eine Stammzellentransplantation besiegen können“, sagt Stephan Leonhard. „Jeff hat mir das Leben gerettet.“ Jeff Chi sagt: „Ich habe ja gar nicht viel gemacht. Es beschämt mich, dass mich alle als Helden sehen.“

An der Seite von Stephan Leonhard war und ist stets seine Frau Doreen, die ihn durch die schwere Zeit seiner Krankheit begleitet hat. 
An der Seite von Stephan Leonhard war und ist stets seine Frau Doreen, die ihn durch die schwere Zeit seiner Krankheit begleitet hat.  © HA | Hanna Kastendieck

Die Chancen lagen bei 1:1.000.000

Es grenzt an ein Wunder, dass für Stephan Leonhard ein passender Spender gefunden worden ist. Denn die Wahrscheinlichkeit einer Übereinstimmung zwischen Patient und Fremdspender ist sehr gering. Die Chancen, den passenden nichtverwandten Spender zu finden, liegen bei 1:1.000.000. Zu dem Zeitpunkt, als die Ärzte Stephan Leonhard nach drei Chemotherapien für austherapiert erklären, sind in der Datei der DKMS 6.893.792 Menschen registriert. Doch keiner von ihnen hat die gleichen Gewebemerkmale wie er. Im Dezember 2016 meldet die DSD schließlich einen möglichen Spender. Er heißt Jeff Chi. Doch dann der Rückschlag. Zwar passen alle Merkmale zu 100 Prozent. Doch Stephan Leonhard kann zu dem Zeitpunkt nicht transplantiert werden. Die Leukämie hat noch einmal zugeschlagen.

Während Stephan Leonhard im UKE bestrahlt wird und eine Chemotherapie durchmacht, die sein gesamtes Knochenmark zerstört, bekommt Spender Jeff Chi über mehrere Tage den körpereigenen Botenstoff G-CSF gespritzt, um ausreichend Stammzellen für eine Transplantation aus dem Blut gewinnen zu können. „Das Medikament hat meinem Körper eine Erkältung vorgegaukelt“, sagt Jeff Chi. „Ich habe mich gefühlt, als hätte ich eine Grippe.“ Der Botenstoff aktiviert die Stammzellvermehrung und bewirkt, dass die Stammzellen ins Blut ausgeschwemmt werden. Am 25. Januar wird der Student im Münchener Klinikum an einen Zellseparator angeschlossen, der die Blutstammzellen abtrennt, während das restliche Blut über einen zweiten venösen Zugang wieder in den Körper des Spenders zurückgeführt wird. Dreieinhalb Stunden dauert der Vorgang. „Ich war danach müde, aber auch tief zufrieden“, sagt Jeff.

Ein Treffen ist frühestens nach zwei Jahren möglich

Am 26. Januar hängen die Ärzte den ersten Beutel mit Stammzellen an den Katheter von Stephan Leonhard. Zwei Stunden dauert die Transfusion. „Ich fand das völlig unspektakulär“, sagt er. „Natürlich könnte ich das Datum rot im Kalender einrahmen, den Tag feiern wie einen Geburtstag.“ Aber Stephan Leonhard mag keine Gefühlsduseleien. Zu lange schon hat er mit der Krankheit gekämpft. Er hat es aufgegeben, die Dinge zu bewerten.

Vielmehr ist es seine Frau, Doreen, die Tränen in den Augen hat, wenn sie an die Krankheit zurückdenkt, an den Tag der Transfusion und an die schwierige Zeit der Rehabilitation. „Seit diesem Tag sehe ich Licht am Ende des Tunnels“, sagt sie. „Es geht langsam aber stetig bergauf.“ In Stephan Leonhards Blut arbeiten nun Stammzellen eines anderen. Wer sie gespendet hat, weiß er nicht. Aber er möchte es wissen, unbedingt.

Als Kinder waren siequasi Nachbarn

„Spender und Empfänger können sich in Deutschland frühestens nach zwei Jahren persönlich kennenlernen“, sagt Stephan Leonhard. „Und auch nur dann, wenn beide Seiten es wollen.“ Also hat er Geduld. Kehrt langsam, Schritt für Schritt, wieder in den Alltag zurück, beginnt wieder in seinem Job als IT-Supporter zu arbeiten, reist mit seiner Frau auf die Kanaren, fliegt nach Brasilien. Mit seinem Spender steht er im Briefkontakt. Sie schreiben sich regelmäßig, reden sich mit „Lieber Spender“ und „Lieber Empfänger“ an.

Ende Januar, 24 Monate nach der Spende, dürfen Spender und Empfänger endlich ihre Namen nennen. Im Februar 2019, zwei Jahre nach der Transplantation, telefonieren sie das erste Mal. „Wir haben zwei Stunden lang geredet“, erinnert sich Stephan Leonhard. „Es war so, als würden wir uns ewig kennen.“ Und dann treffen sie sich tatsächlich. Gemeinsam mit seiner Frau Doreen fährt Stephan am 12. April nach Nürnberg. „Ich war unglaublich aufgeregt“, sagt er. „Man weiß ja nie, ob man sich was zu sagen hat.“ Die Zweifel sind unbegründet. „Wir haben uns sofort verstanden“, sagt Jeff. „Wir sind absolut auf einer Wellenlänge.“ Und nicht nur das. Sie waren als Kind quasi Nachbarn, wie sich herausstellt, haben nur fünf Kilometer Luftlinie voneinander im Landkreis Hannover gewohnt und sind, wenn auch zeitversetzt, sogar auf die gleiche Schule gegangen. „Wenn man von einem Elternhaus über die Feldmark guckt, kann man das andere Elternhaus sehen“, sagt Stephan. „Da bekommt man schon Gänsehaut.“

„Jeff ist wie ein Sechser im Lotto“

Gemeinsam mit ihren Frauen verbringen die beiden genetischen Zwillinge einen Tag in Nürnberg zusammen. „Ich habe mich gefreut, dass wir so gut miteinander auskommen“, sagt Jeff. Er ist froh, dass er sich als Spender hat registrieren lassen. „Jeder sollte das tun, weil er so mit wenig Aufwand ein zweites Leben schenken kann.“ Für Stephan ist „Jeff ist wie ein Sechser im Lotto“. Nicht nur, weil er unglaublich sympathisch sei. Sondern auch, weil er jung ist, ein „Garant dafür, dass eine Spende klappt“. Die beiden wollen in Kontakt bleiben. Und sie werden sich wiedersehen, im Oktober, bei einer Spenderehrung der Deutschen Stammzellspenderdatei.

Mit den Stammzellen eines 15 Jahre Jüngeren im eigenen Körper möchte Stephan Leonhard gemeinsam mit seiner Frau Doreen noch eine ganze Menge auf die Beine stellen. „Wir wollen uns eine Familie bauen“, sagt er. „Ich möchte Vater werden.“ Dass das überhaupt nach den eingreifenden Therapien noch möglich ist, verdankt das Paar Stephans Weitsicht. Als er im Oktober 2015 die Diagnose Leukämie bekommt, gibt er noch vor Beginn der zellzerstörenden Therapie eine Samenspende ab. Aus ihnen soll jetzt in der Kinderwunschklinik ein neues Leben entstehen. Die Leonhards sind optimistisch, dass es klappen wird. Sie haben schon einmal ein Wunder erlebt. Die Chancen stehen diesmal sogar besser: Die Erfolgsrate liegt bei 15 bis 20 Prozent – und damit eindeutig höher als die Wahrscheinlichkeit für einen an Leukämiekranken einen passenden Stammzellenspender zu finden.

Spenden

Wer Stammzellen oder Knochenmark spenden möchte, kann sich bei einer der knapp 30 regionalen Spenderdateien und der Deutsche Knochenmarkspenderdatei (DKMS) registrieren lassen. Wer sich bei den Spenderdateien meldet, erhält ein kleines Paket mit einem Wattestäbchen. Mit dem kann man selbst einen Abstrich der Wangenschleimhaut machen. Das Ganze geht dann wieder per Post zurück.

In regelmäßigen Abständen finden außerdem in vielen Städten und Gemeinden Typisierungsaktionen statt, auf denen sich Spender ein paar Milliliter Blut abnehmen lassen können. Kostenlos registrieren lassen kann sich jeder zwischen 17 und 55, der gesund ist.

Im Labor werden dann die Blut- oder Speichelproben auf verschiedene Gewebemerkmale hin untersucht. Die Ergebnisse werden an das Zentrale Knochenmarkspender-Register Deutschland in Ulm gemeldet und dort gespeichert. In Ulm können deutsche Kliniken anfragen, wenn einer ihrer Patienten wegen einer bösartigen Bluterkrankung auf Stammzellen angewiesen ist.

Ob die Stammzellen anwachsen und die Blutkörperchen bilden, die für die Immunabwehr wichtig sind, hängt unter anderem vom Gesundheitszustand und der Krankheit des Empfängers ab. Vermittler der Stammzellen sprechen von Erfolgschancen um die 60 Prozent.