Hamburg. Serie: Die 100 großen Fragen des Lebens. Zwei Hamburger Professoren über Tumorerkrankungen und ihre Heilungschancen.

Tumorerkrankungen sind nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen die zweithäufigste Todesursache bundesweit: Jedes Jahr sterben etwa 220.000 Menschen hierzulande an Krebs. Die Bundesregierung rief im Januar die „Nationale Dekade gegen den Krebs“ aus, will Studien zur Prävention, Diagnose und Therapie mit 62 Millionen Euro fördern. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) überraschte mit der Einschätzung, dass Krebs in zehn bis 20 Jahren besiegt sein könne. Etliche Mediziner widersprachen dem Politiker, warfen ihm vor, falsche Hoffnungen zu wecken.

Daraufhin schwächte Spahn seine Aussage ab und erklärte: „Wir wollen den Krebs besiegen, indem wir ihn beherrschen. Das wird nicht leicht. Aber gerade deshalb müssen wir es mutig und ambitioniert versuchen.“ Den Krebs zu überwinden, das versucht die Menschheit schon sehr lange. Welche Fortschritte hat die Medizin gemacht, wo stehen wir heute? Darüber sprach das Abendblatt mit dem Medizinhistoriker Prof. Philipp Osten und dem Krebstherapeuten Prof. Carsten Bokemeyer vom Uniklinikum Eppendorf (UKE).

Seit wann gibt es Krebs beim Menschen?

Philipp Osten: Das wissen wir nicht. Die älteste bekannte Erwähnung findet sich in den Schriften aus dem Umfeld des griechischen Arztes Hippokrates von Kos (460 bis 370 vor Christus). Er untersuchte Geschwulste, die durch die Haut zu sehen waren und der Form nach an Krabben erinnerten. Hippokrates nannte die Krankheit „Karkinos“ – griechisch für Krebs. Aus dieser Zeit stammt auch die Viersäftelehre, wonach die Gesundheit eines Körpers von Blut, Schleim, gelber und schwarzer Galle abhängt. Ein Ungleichgewicht dieses Systems, so wurde vermutet, konnte zu Krebs führen. Was tatsächlich im Körper vor sich geht, begannen Ärzte erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts besser zu verstehen.

Wie gelang dieser Durchbruch?

Osten: Mithilfe von Mikroskopen konnten Forscher die Struktur des Gewebes genauer untersuchen. Die Zellularpathologie entstand. Sie brachte die Lehre: Nicht nur das Leben, auch Krankheiten entstehen aus Zellen.

Carsten Bokemeyer: Die Untersuchungen führten zu der Erkenntnis, dass sich Krebs aus einzelnen Zellen in verschiedenen Organen des Körpers bilden kann und dass sich Krebszellen überall im Körper vermehren und verbreiten können.

Osten: Noch vor 100 Jahren hatte Krebs allerdings eine deutlich kleinere gesellschaftliche Bedeutung als heute. Die Lebenserwartung war geringer, viele Menschen starben an Infektionskrankheiten wie Tuberkulose. Antibiotika waren noch nicht verfügbar. An Krebs litten noch vergleichsweise wenige Menschen.

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Als die Erkrankung dann häufiger auftrat, kam es vor, dass Ärzte den Betroffenen eine Krebsdiagnose verschwiegen.

Osten: Das ging bis weit in die 1990er-Jahre hinein so. Der bekannte Kinder­onkologe Dietrich Niethammer aus Tübingen hat Bücher darüber geschrieben. Er plädiert dafür, selbst gegenüber an Krebs erkrankten Kindern ehrlich zu sein. Hinter dem Verschweigen steckte oft die Angst vieler Ärzte vor dem eigenen Versagen angesichts einer unbeherrschbaren Krankheit. Ehrlichkeit musste erst gelernt werden, dafür hat die Medizin hierzulande relativ lange gebraucht.

Prognosen zufolge werden in Deutschland wohl immer mehr Menschen mit Krebs zu kämpfen haben. Wie kommt das?

Bokemeyer: In Deutschland gibt es etwa 480.000 Krebs-Neuerkrankungen pro Jahr – 540.000 werden es geschätzt im Jahr 2025 hierzulande sein. Die Zunahme hat damit zu tun, dass die Menschen immer älter werden. Es verlängert sich der Zeitraum, in dem es in jeder Zelle des Körpers zu genetischen Veränderungen kommen kann. Solche Mutationen sind der Ausgangspunkt für die Umwandlung normaler Zellen in bösartige Tumore. Diese verdrängen andere Gewebe und bilden sogenannte Metastasen, die Organe wie Gehirn, Lunge, Magen, Darm und Leber zerstören. Das Immunsystem geht zwar prinzipiell gegen bösartige Zellen vor, nur funktioniert das mit zunehmendem Alter weniger effektiv. Früher setzten Ärzte im Kampf gegen Krebs nur auf Operationen. Dann kamen die Strahlen- und die Chemotherapie hinzu. Aber auch mit diesen Waffen ist es oft nicht gelungen, den Krebs zu besiegen.

Warum nicht?

Bokemeyer: Weil Krebs aus körpereigenen Zellen hervorgeht, hat er immer auch Eigenschaften von Körperzellen. Wollen wir Krebszellen besonders massiv treffen, besteht immer die Gefahr, dass die Waffe, die wir nutzen, auch den gesunden Körperzellen schadet. Erschwerend kommt hinzu: Einige Krebszellen können sich sehr schnell teilen und im Körper durch den Blut- und Lymphstrom weiterverbreiten. Zumindest durch Operationen und Strahlentherapie haben wir auf diese Zellen keinen Zugriff.

Aber dann können doch Medikamente wirken.

Bokemeyer: Ja, aber auch nicht immer vollständig. Bei einer Chemotherapie hindern sogenannte Zytostatika die Krebszellen am Wachstum und bringen sie zum Absterben. Dabei setzen die Medikamente an verschiedenen Stellen der Krebszelle an. Leider können die Krebszellen ihre Eigenschaften verändern und unempfindlich gegenüber Medikamenten werden. Die resistenten Krebszellen haben dann einen Wachstumsvorteil. So kommt es zu Rückfällen.

Was ist heute über die Ursachen von Krebs bekannt?

Bokemeyer: Etwa 35 Prozent der Krebsfälle lassen sich Risikofaktoren zuweisen, die vermeidbar sind. Raucher etwa haben ein 20-fach höheres Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken, als Nichtraucher. Fast 90 Prozent der Lungenkrebsfälle bei Männern und mehr als 80 Prozent bei Frauen sind auf das Rauchen zurückzuführen. Alkoholkonsum ist ein weiterer vermeidbarer Risikofaktor insbesondere für Krebs im Kopf-Hals-Bereich, in der Speiseröhre, im Magen und der Bauchspeicheldrüse.

Welche Rolle spielt die Ernährung?

Bokemeyer: Eine Ernährung mit zu wenig Ballaststoffen und zu wenig Gemüse und Obst kann die Entstehung von Krebs begünstigen. Eine größere Rolle als Risikofaktoren spielen allerdings Bewegungsmangel und Übergewicht: Bei Übergewichtigen kommen Brustkrebs, Nierentumore und Magenkarzinome drei- bis fünfmal häufiger vor als bei normalgewichtigen Menschen. Das ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass Fettzellen bestimmte Stoffe produzieren können, die Wachstumsprozesse im Körper – auch die Vermehrung von Krebsvorstufen und Tumoren – begünstigen können.

Nun kann man auf Zigaretten und Alkohol verzichten, viel Sport treiben, viel Gemüse essen – und trotzdem an Krebs erkranken.

Bokemeyer: Ja, das stimmt, aber immerhin könnte man viele Krebsfälle vermeiden. Darüber hinaus sind aber bis zu 15 Prozent aller Krebsfälle erblich bedingt, und wenn wir also vermeidbare und erb­liche Fälle zusammennehmen, bleiben knapp 50 Prozent übrig. Hier spielt dann die Alterung der Gesellschaft, über die wir schon sprachen, eine entscheidende Rolle: Wenn permanent Tausende von Zellveränderungen im Körper stattfinden, kann nur eine einzige Veränderung genügen, damit Krebs entsteht. Die Wahrscheinlichkeit für solche Ereignisse nimmt im Alter schlicht zu. Zwei Drittel aller Krebserkrankungen betreffen Menschen über 60.

Osten: Viele Betroffene fragen sich: Warum ich? Sie tragen sich mit Selbstzweifeln, obwohl sie ihre Kraft vor allem für die Therapie bräuchten. Esoterische Gruppen nutzen das aus, um fragwürdige Therapien zu verkaufen. Davor warne ich. Es lässt sich bei Krebs selten sagen, was genau die Ursache war. Es kann einfach nur ein großer Zufall sein.

Bokemeyer: Einige Patienten fragen sich, ob Krebs die Folge einer psychischen Belastung oder gar pessimistischen Grundhaltung ist. Tatsächlich gibt es aber keine sogenannte Krebs-Persönlichkeit. Dass etwa Menschen mit Depressionen mehr Krebs bekommen, lässt sich durch Studien nicht belegen. Heute erkranken etwa doppelt so viele Menschen an Krebs wie vor 35 Jahren.

Gibt es auch gute Nachrichten?

Bokemeyer: Ja, ganz sicher! Etwa 65 Prozent aller Krebspatienten in Deutschland werden dauerhaft geheilt. Bei Brustkrebs liegt die Heilungsrate bei 85 Prozent, bei Hodenkrebs sogar bei 90 Prozent. Es gibt somit heute immer mehr Langzeitüberlebende nach einer Krebserkrankung. Und auch bei Patienten, die wir nicht heilen können, lässt sich der Krebs immerhin oft zurückdrängen, für eine Zeit lang eindämmen. Vor 20 Jahren hatten Patienten bei bestimmten Krebserkrankungen nur eine Überlebenszeit von wenigen Wochen – heute können es oft mehrere Jahre sein.

Worin bestehen die wichtigsten Fortschritte in der Therapie?

Bokemeyer: Ein Fortschritt besteht darin, dass für Patienten heute meist eine individuelle Therapie zusammengestellt wird, die Medikamente gezielter einsetzt. Beispielsweise können Antikörper, künstlich erzeugte Eiweißmoleküle, das Wachstum bestimmter Tumore stoppen oder verzögern. Ermutigend sind auch die Ergebnisse von Immuntherapien. Dabei wird das Immunsystem wieder befähigt, Krebszellen zu erkennen. Der jüngste Ansatz besteht darin, Immunzellen des Patienten aus dem Blut herauszufiltern und genetisch so zu verändern, dass sie den Krebs besser bekämpfen. Bei bestimmten Formen der Leukämie (Blutkrebs) und bei Lymphdrüsenkrebs zeigen sich hier erste Erfolge. Bisher ist die Immuntherapie bei einem Drittel aller Krebsarten insofern erfolgreich, als dass sie die Überlebenszeiten um zwei bis fünf Jahre verlängern kann. Vielleicht sind einige der Patienten auch komplett geheilt, aber das wissen wir noch nicht genau, weil die Beobachtungszeiten nicht ausreichen.

Osten: Ein anderer Grund für Erfolge im Kampf gegen Krebs ist, dass wir Erkrankungen früher diagnostizieren, etwa bei Brustkrebs. Auch bei Gebärmutterhalskrebs spielen sogenannte Screening-Untersuchungen eine wichtige Rolle bei der Vorsorge. So können Ärzte den Tumor entfernen, wenn er noch nicht bestimmte Zellschichten erreicht und keine Metastasen gebildet hat.

Der Radiologe Martin Bleif, dessen Frau 2010 an Krebs gestorben ist, schrieb ein Buch mit dem Titel: „Krebs, die unsterbliche Krankheit“. Wird es die Krankheit immer geben?

Bokemeyer: Es wird wohl nicht gelingen, alle Krebsarten zu heilen. Man wird aber immer mehr Patienten heilen können, die Überlebenszeiten werden immer länger werden, Krebs wird unter Umständen zu einer chronischen Erkrankung werden wie Diabetes. Es kann dann nach einer Überlebenszeit von 15 bis 20 Jahren so sein, dass man nicht mehr an Krebs stirbt, sondern aus anderen Gründen. Trotzdem wird es Krebserkrankungen geben, die wir nicht schnell in den Griff bekommen werden. Ich bin allerdings überzeugt davon, dass der Schrecken der Krankheit immer weiter abnehmen wird.

Sie haben als Krebstherapeut viele Todesfälle erlebt. Wie gehen Sie damit um?

Bokemeyer: Die Behandlung von Krebspatienten ist mit großen medizinischen und menschlichen Herausforderungen verbunden, vor denen ich viel Respekt habe. Das höchste angestrebte Ziel ist die Heilung, auch wenn das nicht immer möglich ist. Wenn ich einen betroffenen Menschen mit seiner Krankheit über längere Zeit gut begleiten kann, seine Symptome lindern, die Lebenszeit verlängern kann, dann ist auch das für mich ein großer Erfolg.