Harburg. In der Industriestadt Harburg gab es Kneipen an jeder Ecke. Noch bis in die 1960er/70er Jahre hinein. Zeitzeugen und Geschichtsfans erinnern sich
„Harburg war eine der großen Arbeiterstädte in Deutschland. Entsprechend hoch war die Kneipendichte“, sagt Klaus Barnick vom Vorstand der Geschichtswerkstatt Harburg. Bereits zum zweiten Mal treffen sich an diesem Nachmittag Geschichtsinteressierte in den Werkstatt-Räumen in der Fischhalle im Binnenhafen zum „Klönschnack“, um Erinnerungen und recherchiertes Wissen zur Historie der Harburger Kneipenlandschaft auszutauschen. „Noch in den 1960er/70er Jahren gab es hier an jeder Ecke eine Kneipe“, sagt Barnick und hofft darauf, eines Tages eine Stadtkarte mit allen ehemals hochfrequentierten Bierzapfstellen veröffentlichen zu können – vom Kiosk bis zum Ausflugslokal.
Historische Kneipenbilder
Manche Lokale erzählen oder erzählten Harburger Geschichte. Zum Beispiel die Kneipe Zur Seilerbahn. Sie befand sich an der heutigen Straße Am Soldatenfriedhof, etwa in Höhe des jetzigen Büros vom Grundeigentümerverein. Der Beamer in der Geschichtswerkstatt wirft ein Foto an die Wand. Es zeigt ein abgebranntes Haus mit der ehemaligen Kneipe im Erdgeschoss. In der Nacht vom 8. auf den 9. Dezember fiel das Gebäude einer Brandstiftung zum Opfer. Damals gab es zwei Tote, weil Obdachlose dort eine Übergangsbleibe hatten, berichtet Hobby-Historiker Paul-Hermann Korsen, der seit vielen Jahren Harburgs Geschichte zusammenträgt.
Die Kneipe Zur Seilerbahn wurde bereits einige Jahre zuvor geschlossen. Korsen: „Der Name zeugt von der einstigen Seilerbahn, die Ende des 19. Jahrhunderts vom Helmsweg bis zur Buxtehuder Straße hinunter führte. Damals wurden dort tatsächlich Seile gedreht, es war eine richtige Reeperbahn.“
Jenseits der B 73 und der Bahntrasse liegt eine Traditionskneipe, die heute noch Bier ausschenkt: der Goldene Engel an der Harburger Schloßstraße – seit 1730/40 wird an dieser Stelle eine Gaststätte betrieben. Die Toreinfahrt im Gebäudeensemble erinnert an die frühere Funktion eines Utspanns, eines Rast- und Pferdewechselplatzes.
1985 hat ein Großbrand das unter Denkmalschutz stehende Fachwerkhaus weitgehend zerstört – nur die historische Fassade blieb erhalten. Zuvor ließ sein Eigentümer es verfallen. „In dieser Zeit war der Goldene Engel ein Spekulationsobjekt“, sagt Friedrich Richter. Er engagierte sich damals in einer Bürgerinitiative für die Rettung der Traditions-Gaststätte. „Ein Blankeneser Makler hatte viele denkmalgeschützte Gebäude erworben und schlug dem Denkmalschutzamt vor, einige von ihnen zu erhalten und im Gegenzug andere abreißen zu dürfen. Damit wollte er weiteres Bauland gewinnen.“ Die Rechnung ging nicht auf, zumindest nicht an der Harburger Schloßstraße.
An der Seehafenstraße wurde ein Kneipenwirt erstochen
Eine alte Ansichtskarte erinnert ans Cap Horn, benannt nach dem Inhaber Julius Horn, an der Ecke Seehafenstraße/1. Hafenstraße. Dort kehrten Seeleute, Hafenarbeiter und Eisenbahner ein. Einer der Kneipenwirte sei erstochen worden, heißt es. Paul-Hermann Korsen blättert in alten Zeitungsartikeln: „Der Mord am Gastwirt Uwe Schäfer geschah am 1. Februar 1993.“
Im nächsten Bild taucht die Trinkhalle (heute Kulturkiosk) Ecke Kanalplatz/Blohmstraße auf. „Wenn die Werftarbeiter auf der Schlossinsel nach der Schicht einkehren wollten, kam es vor, dass die Drehbrücke (heute Klappbrücke, die Red.) über den Lotsekanal für den Schiffsverkehr geöffnet und damit die Trinkhalle jenseits des Kanals unerreichbar war. Die Arbeiter standen auf dem Trockenen und hatten furchtbaren Durst, bis der Weg wieder frei war. Denn auf der Schlossinsel gab es keine Kneipe“, erzählt Karl Heinrich Altstaedt, der als Schiffsmakler tätig war.
Viele Etablissements werden beim Ritt durch die Harburger Kneipengeschichte nur mit kurzen Anmerkungen bedacht. Der Graue Esel am heutigen Karnapp hatte einen großen Saal, in dem ausgiebig geschwoft wurde, besonders sehenswert sei die rückwärtige Fassade. Das Kneipenviertel Lämmertwiete mit dem Donnerbesen (heute: Bei Fernando) wurde im Krieg zum Teil zerstört und danach wieder aufgebaut. Die Hähnchenbraterei Ecke Moorstraße/Wilstorfer Straße war keine Wienerwald-Gaststätte, und im ehemaligen Hotel Schweizer Hof an der Moorstraße wurden Aussiedler untergebracht. Der Saal im Berliner Hof an der Wilstorfer Straße wurde auch als Kino genutzt – heute residiert gegenüber das Cinemaxx.
Die Kupferkanne gab es gleich zweimal: an der Hölertwiete und am Nordrand des Rathausplatzes (heute Dubrovnik). Letztere musste sich umbenennen in Kupferkanne am Rathaus. Im Wein-Fürst neben der alten Post am Harburger Rathausplatz wurden nicht nur Weine, sondern auch Schnäpse verkauft – für Postarbeiter in Cola-Flaschen abgefüllt, damit es nicht so auffiel. Nur ein paar Schritte entfernt lag die Imperial-Bar an der Bremer Straße, „die letzte Kneipe, in die man am frühen Morgen noch schnell hinein ging“, sagt einer der rund 20 Klönschnack-Teilnehmer.
Früher Kneipenviertel, heute Verkehrsknoten in Wilstorf
Ein großes Kneipen-Cluster gab es in Wilstorf – dort, wo heute die Hochstraße der A253 entlang führt. Was heute als Riesenkreuzung dem Straßenverkehr gewidmet ist, war vor einem halben Jahrhundert noch das Eldorado der Phoenix-Arbeiter. Hier stand Kneipe an Kneipe, dazu ein Minigolfplatz und ein Kiosk in Fliegenpilz-Optik. Ein paar Meter weiter, vor der Gaststätte Pomé an der Winsener Straße, soll es angeblich die erste Schlägerei zwischen deutschen Industriearbeitern und italienischen Gastarbeitern gegeben haben.
Eine erste Stadtkarte der Geschichtswerkstatt zeigt die Kneipenstandorte in den 1960er/1970er Jahren. Gut 40 Lokale sind bislang eingetragen. Die meisten von ihnen existieren nicht mehr. Auf den ersten Blick wird deutlich: Viele Kneipen fehlen noch, darunter der Goldene Engel und der Graue Esel. Hier wartet noch viel Arbeit auf die Aktiven der Geschichtswerkstatt.