Hamburg . Für Bettler ist es sehr hart, täglich etwas zu essen zu bekommen. Abendblatt-Reporterin Stefanie Ender hat den Selbstversuch gemacht.

Kekse, Kuchen und Braten – Hungern muss der Durchschnittsharburger nicht. Sein Tisch ist reich gedeckt und er kann sich ausgiebige Einkaufstouren durch die Harburger Innenstadt inklusive Weihnachtsmarktbesuch leisten. Zwischen den Flanierenden sitzen hier allerdings gewöhnlich auch diejenigen, deren Abendessen ausfällt, wenn sie keine Spenden bekommen. Ich wollte wissen, wie sich das anfühlt, wenn man andere Menschen um Geld bittet.

„Oh du reich beschenkende und konsumfreudige Gesellschaft“, summe ich auf meinem Weg in die Bettlerwelt vor mich hin. Immerhin gibt es in Hollywoodstreifen wie „Streben nach Glück“ grundsätzlich dramatische Klänge, die Helden wie Will Smith auf ihrer Hetzjagd nach Schlafplatz und Nahrung begleiten. Und da ich nun in eine für mich fremde Welt eintauchen werde, zermartere ich mir den Kopf, wie ich mich nicht nur musikalisch, sondern ganz praktisch vorbereiten kann.

Meine Verkleidung sind schließlich mehrere Schichten Klamotten, die ich mir überziehe, ein Pappbecher aus dem Café um die Ecke und ein Pappschild mit der Aufschrift „Ich habe Hunger“. Eine alte Jacke konnte ich von Freunden auftreiben und zwei Löcher waren schnell in die Jeans gerissen. Mental stelle ich mich darauf ein, ignoriert und links liegen gelassen zu werden. Auch wenn ich besonders in der Vorweihnachtszeit im Radio von geberfreudigen Mitmenschen und frohen Straßenbettlern höre habe.

Günter Bartel (r.) gibt gern etwas. Mit dieser Einstellung  ist der Rentner aus Fleestedt allerdings in der Minderheit
Günter Bartel (r.) gibt gern etwas. Mit dieser Einstellung ist der Rentner aus Fleestedt allerdings in der Minderheit © HA | Jörg Riefenstahl

Mein Selbstversuch beginnt an einem Nachmittag vor dem Harburger Karstadtkaufhaus. Einen geeigneten Platz direkt neben dem Eingang zum hell erleuchteten und funkelnden Konsumtempel finde ich schnell und knie mich auf einer Plastiktüte als Unterlage auf den Boden. Kaum sitze ich, verschiebt sich meine Perspektive. Von hier unten sehen die Menschen groß aus. Kalt und gestresst laufen viele vorüber. Ich höre wenige Gespräche, dafür viele Handys klingeln. Leichte Scham kriecht in meine Knochen und die Filmmusik in mir verstummt. Ich bedecke mein Gesicht mit einer Kapuze.

Von einer bettelnden Frau, die täglich in der Nähe des Phoenix Centers sitzt, habe ich mir den traurigen Gesichtsausdruck und das Klappern mit dem leeren Becher abgeschaut. Nach kurzer Zeit wirft ein Mann in neonfarbener Straßenbauarbeiterweste eine Münze in mein Bettelgefäß. „Das ging schnell“, denke ich verwundert. Kurze Zeit später bückt sich ein älterer Herr zu mir herunter. Er sieht besorgt aus. Auch er spendet eine 50 Cent-Münze. „Ich gebe immer etwas, vor allem wenn jemand schreibt, dass er Hunger hat“, sagt der Fleestedter Günter Bartel später, als ich ihn aufkläre, dass ich hier ein Bettelexperiment mache.

Ich wechsele nach einerhalben Stunde den Standort

Nach etwa einer halben Stunde und um 70 Cent reicher, suche ich mir einen neuen Platz am Harburger Weihnachtsmarkt. Auch dort knie ich mich auf den Boden, direkt neben den Eingang. Niemand vertreibt mich hier, auch nicht die Polizisten, die mich aus der Ferne erspähen. Sofort fällt mir auf, dass es hier ruhiger ist – kein Straßenlärm, aber auch weniger Passanten. Ein Kind erschrickt, als es mich sieht und versteckt sich hinter seinem Vater. Zwei ältere Damen schauen mich kopfschüttelnd an. Ein kleines Mädchen bleibt vor mir stehen. Ihre Mutter an der Hand drängt zum Weitergehen. Das Mädchen verharrt und lächelt mich lange an. Ich merke, wie mir ihr Blick wärmt.

Ein älterer Mannkauft mir eine Bratwurst

Aus einiger Entfernung sehe ich einen älteren Herren auf meinen Kollegen zugehen, der sich hinter einem Baum gekauert hat, um Fotos von meinem Experiment zu schießen. „Was tun Sie denn da? Was ist, wenn die Dame das Fotografieren gar nicht möchte“, ruft der couragierte Mann empört. Danach kommt er geradewegs auf mich zu. „Sie haben Hunger, wie? Ich hole Ihnen eine Bratwurst. Hell oder dunkel?“, fragt er. Ich sage ihm, es sei mir egal. Er verschwindet im Getümmel des Weihnachtsmarktes und kommt kurze Zeit später mit einer Wurst und einem Brötchen wieder.

Eine Wurst kann glücklich machen. Vor allem, wenn sie ein Geschenk an einem kalten Tag ist
Eine Wurst kann glücklich machen. Vor allem, wenn sie ein Geschenk an einem kalten Tag ist © HA | Jörg Riefenstahl

Als ich auch ihn über mein Experiment aufkläre, sagt er, er gebe grundsätzlich Bettlern gern etwas, aber immer nur Essen. „Geld wird so schnell für unnötige Dinge ausgegeben“, sagt der gebürtige Harburger, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. „In meinem Wohnort in Maschen gibt es keine Bettler. Hier in Harburg schon“, erklärt er mir.

Während ich mir die Wurst schmecken lasse, mischt sich eine melancholische Melodie in meine Gedanken, die in diesem Moment nur ich hören kann. „Wo sind all die Bettler?“, frage ich mich. Denn bisher ist mir außer einem Zieharmonikaspieler niemand auf den Straßen sitzend begegnet. Kurzentschlossen beende ich nach etwa einer Stunde und mit vollem Bauch mein Experiment und mache ich mich auf die Suche nach den Menschen, für die das Schnorren tägliche Realität ist.

An der Harburger S-Bahnstation sitzt an diesem Nachmittag niemand. „Normalerweise sitzen einige Rumänen am Sonntag vor der Rolltreppe“, erzählt Naeem Ahmadi, Betreiber der Mathewes Bahnhofsbäckerei. Ich solle doch mal vor dem Bahnhof nachsehen, rät er mir. Auch dort ist niemand, der um Almosen bittet. Ich laufe weiter am Phoenix Center entlang in Richtung Lüneburger Straße. Dort, wo sonst immer die ältere Frau ihren Becher schüttelt, sehe ich diesmal niemanden sitzen. Einige Passanten wissen sofort, wen ich meine, haben sie aber an diesem Tag auch noch nicht gesehen.

In der Fußgängerzone „Lüneburger Straße“ finde ich einen Mann, der esoterische Bücher verkauft. Er stehe hier öfter, sagt er. Wo er herkommt und wie er heißt, verrät er mir nicht. Dafür erzählt er mir von der bettelnden Frau, die ich suche und ihrem Ehemann, der gewöhnlich vor dem dm Drogeriemarkt bettelt. „Die beiden kommen aus Bulgarien und sind seit zwei Tagen weg. Er hat ein Herzleiden. Das hat er mir erzählt“, sagt er. Auch einen polnischen Bettler kenne er, der bis vor drei Tagen hier seine Angel auswarf. An ihr habe er einen Becher befestigt, in den Passanten Geld werfen. „Es ist komisch, aber in den letzten Tagen vor Weihnachten ist hier wenig los“, stellt er fest.

Viele Bettler habensich zurückgezogen

Ich laufe weiter umher und durchsuche jeden Harburger S-Bahneingang, schaue in dunkle Gassen und frage Passanten. Wie vom Erdboden verschluckt scheinen die, die meist ohnehin unscheinbar sind. Meine Frage nach den Bettlern, irritiert hier viele. Niedergeschlagen laufe ich an der Technischen Universität Hamburg vorbei nach Heimfeld, um zu sehen, ob sich jemand an der Suppenküche am Heimfelder Treffpunkt finden lässt. Auch dort gähnen mich dunkle Fensterscheiben an. Müde und mit kalten Gliedern kehre ich nach Hause zurück. „Schade“, denke ich mir. So gern hätte ich meine 70 Cent weiterverschenkt und mein Experiment mit jemandem geteilt, der nicht das Glück hat, dieses Umherirren nur zu inszenieren oder davon zu lesen.

Arm in Hamburg

Unter der Armutsgrenze lebten Ende 2016 nach Angaben des Bundesstatistikamtes 14,9 Prozent der Hamburger. Damit schneidet die Hansestadt statistisch als bundesweit Drittbester hinter Bayern und Baden-Württemberg ab.

15 Prozent der Harburger beziehen Unterhaltsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch II, laufende Hilfen zum Lebensunterhalt und nach dem Asylbewerbergesetz, darunter 22.116 Hartz-IV-Empfänger, 474 Empfänger von Lebensunterhaltshilfen und 2223 Menschen, die Asylbewerberhilfe bekommen.

Die Zahl der Bettler in Harburg wird statistisch nicht erhoben. „Zum Einen, weil uns der Gesetzgeber nicht beauftragt, zum Anderen weil sich diese Zahl weitgehend unserer Beobachtung entzieht“, sagt Thorsten Erdmann, Referatsleiter des Bereiches Gesundheit und Soziales des Statistikamtes Nord.

Rechtliches

Das Betteln ist private Sache und wird weder durch Gesetz noch Verwaltungsverordnung verboten. Allerdings könnten Bettler in Harburg in bestimmten Situationen gegen das Hamburgische Wegegesetz verstoßen. So vor allem dann, wenn sie dauerhaft eine öffentliche Straße oder einen Platz blockieren.

§ 16 des Hamburgischen Wegegesetzes bestimmt, dass ein öffentlicher Weg „nicht unzumutbar beeinträchtigt“ werden darf. „Wenn jemand bettelt, aber dennoch Fußgänger vorbei lässt und Rücksicht nimmt, sollten die Ordnungskräfte nicht eingreifen. Zumindest rate ich ihnen wegen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht dazu“, sagt Bettina Maack, Leiterin der Pressestelle des Bezirksamtes Harburg.

Privatrechtlich handelt es sich beim Betteln um eine Schenkung gemäß § 516 Bürgerliches Gesetzbuch. Das heißt, weder der Geldgebende noch der Bettler verpflichten sich zu einer Gegenleistung. Der Bettler könnte das ihm angebotene Geschenk – zum Beispiel weil er als Vegetarier keine Bratwurst isst – ohne rechtliche Folgen ablehnen.