Hamburg. 59 Hamburger starben 2015 an Rauschgift. Deutschlands erster Konsumraum in Harburg sorgt seit 20 Jahren dafür, dass es nicht mehr sind.

Der kleine Raum erinnert an eine Kommandozentrale: großes Panoramafenster, rechts ein schwarzes Mikrofon, mit dem man seine Stimme in die Nebenräume schalten kann, daneben ein Knopf, an dem verschiedene Alarmstufen ausgelöst werden können. Der große Alarm wird bis in die Büroräume, die sich in der oberen Etage des Nachbarhauses befinden, geleitet. Wenn er ausgelöst wird, müssen alle außer den Mitarbeitern des Drogenkonsumraums Abrigado das Gebäude verlassen. Dann ist in einem der drei Räume, die durch das Panoramafenster eingesehen werden können, ein Notfall passiert.

59 Drogentote gab es 2015 in Hamburg, die meisten von ihnen verstarben durch Vergiftungen, 19 an Langzeitschäden. Keiner von ihnen ist in einem der vier Drogenkonsumräume der Stadt gestorben, in denen Abhängige unter Aufsicht und hygienischen Bedingungen Rauschgift nehmen. Während die Zahl der Toten in den vergangenen Jahren zwischen 45 und 61 schwankte (2014 waren es 51), lag sie Anfang der 1990er-Jahre, bevor es Druckräume gab, noch zwischen 140 und 180 Fällen im Jahr. Fünf Millionen Mal wurde seit 2000 in Druckräumen Drogen konsumiert. 2015 gab es die ersten Toten – je einen in Berlin und in Saarbrücken.

Im Hamburger Abrigado tritt etwa einmal pro Woche ein schwerer Notfall auf, sagt Urs Köthner, Geschäftsführer von Freiraum Hamburg, das den Druckraum betreibt. Mit „schwer“ meint er, dass der Abhängige wahrscheinlich gestorben wäre, wenn er allein in einem Park konsumiert hätte. Oder zu Hause, mit anderen, die sich aber nicht trauen, einen Krankenwagen zu rufen, weil auch die Polizei eingeschaltet wird, wenn es um illegale Drogen geht.

Solche Todesfälle zu verhindern ist unter anderem das Anliegen des Vereins Freiraum, der 1994 mit dem Abrigado an der Schwarzenbergstraße Deutschlands ersten Drogenkonsumraum einrichtete. Ziel ist es, das Überleben der Konsumenten von Heroin, Kokain und Crack zu sichern und sie gesundheitlich und psychosozial zu stabilisieren. „Schadensminimierung über Lebenshilfe“, nennt es Köthner, der 2000 selbst einen Druckraum in Bochum aufbaute. Seine ersten Besucher seien zwei Banker gewesen, die sich in der Mittagspause einen Schuss setzen wollten, erzählt er. „Ins Abrigado kommen perfekt integrierte Leute direkt nach der Arbeit, um zu konsumieren.“ Der Verein kooperiert mit der Kita nebenan. Wenn Süchtige ihre Kinder mitbringen, werden die während der Konsumzeit von den Erziehern betreut. „Wir müssen die Realität anerkennen“, sagt Köthner.

Der Suchttherapeut, der auch im Vorstand von Akzept sitzt, dem Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik, plädiert für die Legalisierung aller Drogen für Konsumenten über 18. Er setzt sich auch in Arbeitskreisen in der Stadt ein, in der Schanze und auf St. Pauli. „Wir erarbeiten sozialverträgliche Lösungen mit den Dealern“, sagt Köthner. Die Vorschläge lauten unter anderem so: „Keine Ansprache von Familien mit Kinder, kein Dealen vor 19 Uhr, keine Drogendepots in der Nähe von Spielplätzen und anderen Orten, an denen sich Kinder aufhalten.“

Laut der jetzt veröffentlichten Kriminalitätsstatistik ist die Zahl der Rauschgiftdelikte in Hamburg 2015 um 928 Fälle auf 9450 gestiegen. Der größte Teil sind Konsumentendelikte, die von 6657 auf 7293 Fälle gestiegen sind. Um Drogenhändler zu demotivieren, versucht die Polizei das Vermögen abzuschöpfen, nimmt also den Dealern ihren illegalen Gewinn ab. Nach Angaben des Landeskriminalamts hat sich die 2015 gesicherte Summe gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt: Rund 870.000 Euro wurden beschlagnahmt. Daran, dass sich die offene Drogenszene in Hamburg an einigen Orten weiter hält, hat sich nichts geändert. „Es gibt Orte wie den Hansaplatz, an dem wir trotz täglicher Polizeipräsenz immer mit den Frontdealern zu tun haben“, sagte Frank Martin Heise, Vizechef des LKA bei der Präsentation.

Geschäftsführer Urs Köthner vor dem
Druckraum Abrigado in Harburg-Harburg
Geschäftsführer Urs Köthner vor dem Druckraum Abrigado in Harburg-Harburg © HA | Michael Arning

Ziel der Konsumräume ist es auch, offene Drogenszenen zu vermeiden. Das Abrigado öffnet wochentags um 13.30 Uhr, die Uhrzeit hat sich vor Jahren ergeben, weil dann der Unterricht an der angrenzenden Schule vorbei ist. Täglich kommen etwa 80 bis 120 Besucher; am Monatsanfang, wenn noch Geld da ist, mehr als am Monatsende. Die meisten bleiben mehrere Stunden, bis die Räume um 19 Uhr abgeschlossen werden. Die Abhängigen können im Abrigado nicht nur konsumieren, sondern auch duschen, Wäsche waschen, günstig essen und sich beraten lassen.

Wer konsumieren will, geht zu einem erhöhten Tresen. Benutzte Spritzen werden durch eine Klappe direkt in den Mülleimer geworfen, eine Mitarbeiterin teilt neue aus. Für den Konsumraum führt sie eine Warteliste. Süchtige, die spritzen und dafür Ruhe brauchen, sind durch zwei Türen getrennt von denen, die ihre Drogen vom Blech rauchen. Alles ist durch das Panoramafenster einsehbar. Im Dunst sitzen an einem Tisch drei Männer und eine Frau, die Köpfe in die Nacken gelegt, ohne sich zu unterhalten. Hinter einer Glaswand im Nebenraum stehen drei Männer und gestikulieren. Maximal vier Besucher dürfen diese sogenannten Express-Plätze gleichzeitig nutzen, um Drogen durch die Nase zu ziehen oder aus der Crack-Pfeife zu rauchen. Die Platzzahl ist begrenzt, damit die Mitarbeiter nicht den Überblick verlieren – und verhindern können, dass gedealt wird.

Mehr als 80 Prozent der Besucher hätten psychische Probleme, die nie angemessen behandelt worden seien, sagt Köthner. Der Drogenkonsum sei bei vielen eine Art „Selbstmedikation“. Köthner: „Das größte Problem der Menschen hier sind nicht die Drogen.“