In unserer großen Serie beschreiben Menschen ihr Wohnquartier, erzählen, warum sie es mögen und was sie stört. Heute, in Teil 9, sagt Uwe Greve: Ich bin Neuländer, weil...

Ich könnte niemals in der Stadt leben. Nie-mals!“ Uwe Greve betont jede Silbe und wirft seiner Frau Martina einen mitleidigen Blick zu. „Wenn ich bedenke, wo du aufwachsen musstest. In einer Etagenwohnung an einer Hauptstraße. Das hätte ich nicht ausgehalten!“

Er schüttelt bedauernd den Kopf. Dabei lagen die Orte ihrer Kindheit gerade mal vier Kilometer Luftlinie voneinander entfernt. Sie wurde an der Buxtehuder Straße groß, er am Neuländer Elbdeich. In benachbarten Vierteln und doch in zwei unterschiedlichen Welten.

Uwe Greve fühlt sich als Hamburger, nicht aber als Städter. Neuland ist ein Dorf. Zumindest hier am Deich. Die Zahl der Bewohner ist überschaubar, und immer noch kennt fast jeder jeden. Denn die Familien bleiben, nur die Generationen wechseln. Mindestens zwei Drittel sind Alteingesessene, schätzt Uwe Greve.

Der 58-Jährige lebt in einem Anbau seines Elternhauses. Seine Mutter und sein Sohn Marc teilen sich das rund hundert Jahre alte, mehrmals erweiterte und aufgestockte Vorderhaus. Sein älterer Sohn hat auch eine Bleibe in Neuland gesucht, aber keine finden können. „Das Wohnungsangebot ist ja sehr begrenzt, weil kaum jemand wegzieht. Nico wohnt jetzt in Over.“

Over und Bullenhausen erscheint vielen Neuländern als akzeptable Alternative. Schließlich sieht es bei den niedersächsischen Nachbarn genauso aus wie bei den Hamburgern. Die Häuser stehen wie Perlen einer Kette am alten Deich aufgereiht.

Dahinter liegen die saftigen Wiesen, durchzogen von Entwässerungsgräben, den Wettern. Uwe Greve weist mit ausladender Armbewegung um sich. Ein paar Enten paddeln durch Teichlinsen, auf einem Steg sonnt sich eine Katze, in der Ferne grasen Pferde.

Auf einer Wiese am Neuländer Elbdeich reiten Mädchen
Auf einer Wiese am Neuländer Elbdeich reiten Mädchen © HA | Martina Berliner

Er liebt diese Leere. Die flache grüne Weite, die sich seit seiner Kindheit kaum verändert hat. Nur, dass jetzt so gut wie keine Landwirtschaft mehr betrieben wird. Weil die Erde so nass ist, dass sie nicht mit schwerem Gerät zu befahren ist.

Und weil die Flächen letztlich zu klein sind, um lohnend bewirtschaftet zu werden, meint Uwe Greve. Seine beiden Großväter – der eine war Neuländer, der andere Bullenhausener – waren noch Vollerwerbsbauern. Mit Viehweiden hinter dem Haus und Getreidefeldern und Gemüsegärten vor der Tür.

Auf dem vergleichsweise hoch gelegenen Gelände zwischen dem Neuländer Elbdeich und dem Hauptdeich darf heute kein Gartenbau mehr betrieben werden. Nur Futtermittelanbau ist erlaubt, aber zumeist liegt das Land brach. „Das sind Spülflächen, mit Schadstoffen belastet. Die meisten hat die Stadt Hamburg als Ausgleichsflächen aufgekauft“, sagt Uwe Greve.

Er selbst nutzt noch einen kleinen Streifen jenseits der Straße – gewissermaßen anstelle eines Vorgartens. Dort steht ein großes Planschbecken, fast schon ein Pool. Darin baden seine Enkel.

Der kleine Uwe ist früher in der Elbe schwimmen gegangen. Trotz der starken Wasserverschmutzung der Vor-Wende-Zeit. „Die Gefahr, sich durch Wasserschlucken zu vergiften, war sicherlich größer, als zu ertrinken. Wir haben ja nur bei Flut gebadet.“

Heute ist das Wasser zwar so sauber, dass man baden könnte. Nur darf man es nicht. Jedenfalls nicht in Neuland. „Ist ja alles Naturschutzgebiet. Es ist verboten, die Uferzone zu betreten. Weil ich meinem Hund gefolgt bin, der sich im Fluss abgekühlt hat, bin ich schon mal von einem Wasserschutzpolizisten verwarnt worden.“

Uwe Greve hat einen Jahresfischereischein. Aber zu seinem angestammten Angelplatz darf er nicht mehr gehen. So hat er das Angeln aufgegeben. Genau wie das Schlauchbootfahren. Er hätte für die Überfahrt über den Deich zum kleinen Yachthafen Gebühren zahlen müssen. Hamburgs strenge Naturschutzregelung ärgert ihn.

Mindestens den Sandstrand bei der Autobahnbrücke sollte man freigeben, findet er. „Auch wenn es verboten ist: Da wird gebadet und gefeiert. Und der Unrat bleibt liegen, weil es keine Mülleimer gibt.“

Trotz kleiner Schönheitsfehler: Neuland ist und bleibt für Uwe Greve ein Idyll. Er mag Spaziergänge auf der Deichkrone, freut sich über die grasenden Schafe und liebt Radtouren durch die Wiesen. Im Sommer radelt er oft zum Neuländer Baggersee, um den Wasserskifahrern zuzusehen.

Das Betonwerk, das Gewerbegebiet Großmoorbogen, der Kleingartenverein, die Siedlung am Neuländer Kamp, Lewenwerder mit Gewerbe und Asylantenheim und sogar der Elbcampus – all das ist Neuland. Aber für Uwe Greve zählt letztlich nur der schmale Streifen am Elbufer, wo sich sein soziales Leben abspielt.

Freunde und Kameraden spielen für ihn seit Kindertagen eine zentrale Rolle. Geboren und eingeschult wurde er in Bullenhausen. Als die Familie nach Neuland zog, musste der Erstklässler die Schule wechseln. Der Siebenjährige empfand das als Härte.

„Zum Glück für mich wurde ein Jahr später die Bullenhausener Schule geschlossen. Dort hatte es nur zwei Lehrer gegeben – einen für die Klassen eins bis vier und einen für fünf bis neun. In Neuland waren wir dann 20 Kinder pro Jahrgang und ich konnte endlich wieder mit all meinen Freunden zusammen sein.“

Bis heute stellen Bullenhausener Kinder zwei Drittel der Schülerschaft der Neuländer Grundschule, die einst Uwe Greve besucht hat, später seine Söhne und heute seine Enkel. Gleich neben dem Gelbklinkergebäude liegt der Fußballplatz. Dort verbringt Uwe Greve seit Kindesbeinen den größten Teil seiner Freizeit.

Bereits als Steppke hat er hier gekickt, mauserte sich zum Leistungsträger. Wegen Gelenkverschleißes musste der Mittdreißiger die Fußballschuhe an den Nagel hängen. Da machte er seinen Trainerschein. Heute wirkt er als Fußballobmann des TSV Neuland. „Fußball ist mein Leben“, sagt er.

Auf dem Platz kennt er jeden Grashalm, der aus dem Grand keimt. Er weist auf einen grünlichen Schimmer über rotem Grund. „Da wächst schon Unkraut. Wir brauchen dringend Kunstrasen!“ Viel bedrohlicher als der Zustand des Platzes und das bescheidene Vereinshaus in Form zweier nicht winterfester Container wirkt sich auf den TSV Neuland aber der Ganztagsunterricht aus.

„Bevor der in den Hamburger Schulen eingeführt wurde, fand nachmittags immer Kinderturnen statt. Jetzt haben wir weniger Hallenzeiten und weniger Mitglieder. Kein Kind kommt doch nach der Schule noch zum Turnen! Wir hatten 70 Austritte. Das hat dem Verein fast das Genick gebrochen.“

Uwe Greve ist Ehrenmitglied des TSV. Überhaupt ist er ein echter Vereinsmeier. Er gehört zum Urgestein des örtlichen Schützenvereins und zur Freiwilligen Feuerwehr. „Nur mit dem Hegering habe ich nichts am Hut und mit den Landfrauen natürlich auch nicht“, sagt er schmunzelnd. Die Dorfgemeinschaft ist eng. „Wenn früher das Brack auf dem Hof meines Neuländer Großvaters zufror, veranstalten wir Kinder Eishockeyturniere. Das ist heute noch ganz genauso. Da kommt der halbe Ort.“

Trotzdem ist das Vereinsleben zunehmend bedroht. In Neuland liegt das vor allem an mangelndem Raum für Versammlungen. Von den sieben Neuländer Gaststätten, die in Uwe Greves Kindheit existierten, gibt es keine mehr. Die einzige verbliebene Kneipe ist die „Inselklause“ auf der Pionierinsel. „Die ist klasse, da gibt es sogar am Wochenende Musik. Aber natürlich ist die Hütte viel zu klein als Treffpunkt für Vereine.“

Seit die Gaststätte „Zur Elbwarte“ im Dorfzentrum samt Tanzsaal verkauft und zu Wohnungen umgebaut wurde, gibt es keine Bälle und Maskeraden mehr in Neuland. Der Schützenverein ist gezwungen, in einer sehr schlichten und sehr kleinen Halle zu feiern.

Und selbst um die Pachtverlängerung der Baracke müssen die Schützen zurzeit bangen. Die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr wissen auch nicht mehr, wo sie sich treffen sollen. Und der Bläsergruppe bleibt als Übungsraum nur der Container am Rand des Fußballplatzes.

Aber Uwe Greve ist keiner, der jammert, dass alles immer schlechter würde. Zwar vermisse er die kleinen Läden, den fahrenden Milchmann und den mobilen Bäcker von anno dazumal durchaus. Aber die Versorgung mit Lebensmitteln klappe. Und zwar dank Präsenz und Hilfe der jüngeren Generation wohl auch bei den meisten Älteren, vermutet er. „Meine Frau und meine Mutter fahren jedenfalls jeden Freitag gemeinsam zum Einkaufen nach Harburg.“

Die Verkehrssituation habe sich mit dem Bau der Straße am Hauptdeich enorm verbessert und entspannt. „Ein wahrer Segen! Bis 1999 fuhren Autos und Lastwagen ja unmittelbar vor unserer Haustür vorbei.“ Nun sind es nur noch die wenigen Anlieger und stündlich ein Bus. Sowohl er selbst als auch seine Söhne seien früher täglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur weiter führenden Schule nach Harburg gefahren.

Für seinen Weg zur Arbeit beim Speiseölproduzenten ADM nimmt er das Auto. Gerade mal acht Minuten braucht er bis zum Werk Noblee & Thörl in der Seehafenstraße. Die grüne Idylle am Neuländer Elbdeich und der Harburger Hafen liegen eben sehr nah beieinander. Zwei Teile einer Stadt, die unterschiedlicher nicht sein könnten.