Hamburg. Forscher aus Harburg planen eine maritime Revolution. Computer sollen die Crew auf der Brücke ersetzen. Kapitäne sind alarmiert.

Der 10. Juni 2015 wird für die Schifffahrt ein bedeutendes Datum. Zu vergleichen mit der Einführung des Propellerantriebs 1836 oder dem Start des Containertransports 1951. Am 10. Juni soll erstmals ein Handelsschiff ohne Kapitän und Besatzung auf Reisen gehen – zumindest in der Computerwelt eines Schiffssimulators. Und da simulierte Welten praktisch überall erzeugt werden können, nimmt die Reise ihren Anfang nicht notwendigerweise auf der Elbe, sondern einige Kilometer südlich davon in einem Labor des Fraunhofer Centrums für Maritime Logistik (CML) an der Technischen Universität in Harburg.

Jahrelang haben die Forscher des CML zusammen mit sieben Partnerinstituten sowie Betrieben in Europa auf diesen Tag hingearbeitet: Die erste Seereise, die ein Schiff vollautomatisch meistert. Drei Millionen Euro kostet das von der Europäischen Kommission mitfinanzierte Projekt der unbemannten Schifffahrt mit dem sperrigen Namen „Munin“.

Mit ferngesteuerten Booten, die Jugendliche gerne in Teichen fahren lassen, hat dieses Hightech-Projekt allerdings nichts gemeinsam. Nicht nur weil die Schiffe, um die es hier geht, 200 bis 300 Meter lang sind, und diese keinen Teich, sondern die Weltmeere befahren. Niemand steht mit einer Fernbedienung am Ufer und lässt die Schiffe per Knopfdruck nach links und rechts fahren. Vielmehr werden Kurs und Geschwindigkeit abhängig von der Route und den Wetterbedingungen vom schiffeigenen Computer festgelegt und überwacht. Trifft das Schiff auf Hindernisse oder ist mit anderen Schiffen auf Kollisionskurs, erkennt der Computer das und reagiert selbstständig. Die Experten des CML haben den Schiffscomputer mit Programmen gefüttert, über die er Ausweichmanöver durchführen kann.

„Nur in seltenen Fällen muss ein Mensch von Land aus in den automatisierten Schiffsbetrieb eingreifen“, sagt Carlos Jahn, Professor an der TU Harburg und Leiter des CML. „Nämlich dann, wenn der Rechner so viele gegensätzliche Impulse erhält, dass er schlichtweg überfordert ist.“ Das könnte eintreten, wenn das Schiff nicht nur einem Hindernis ausweichen muss, sondern beispielsweise auf eine ganze Flotte von Schiffen trifft, durch die es hindurchnavigiert werden muss.

Kapitän übernimmt im Notfall von Land aus Gewalt über die Brücke

„In diesem Fall gibt der Schiffscomputer ein Signal an eine Leitstelle an Land“, sagt Jahn. „Dort sitzt ein erfahrener Kapitän, der mit seinem Computer sofort die Gewalt über die unbemannte Brücke übernimmt.“ Via Satellit erhält er alle notwendigen Daten von der Brücke: das Radarbild, die Kompassanzeige sowie ein Videobild einer Kamera über die See voraus. Dann übernimmt er die Steuerung, bis die bedrohliche Situation vorbei ist. Da diese Situation auf Handelsseereisen aber äußerst selten eintritt, hat der Kapitän in der Leitstelle genug Zeit, nicht nur die Fahrt eines einzigen unbemannten Schiffes zu übewachen. Er kann sich vielen Schiffen widmen. Ganze Besatzungen und damit erhebliche Personalkosten werden so eingespart.

Vollkommen ohne Menschenhand funktioniert das Projekt aber nicht. Zu den Revierfahrten und den An- und Ablegemanövern in den Häfen werden auch weiterhin erfahrene Nautiker an Bord benötigt. Sie werden aber von Lotsenbooten von Bord geholt, sobald die offene See erreicht ist.

Ist das autonome Schiff denn volkswirtschaftlich überhaupt sinnvoll? „Ja“, meint Professor Jahn. Der Seeverkehr stehe vor zahlreichen Herausforderungen in der Zukunft, wie einem deutlichen Anstieg der Transportmengen, wachsenden Umweltauflagen und einem Mangel an Seeleuten. Das autonome Schiff sei darauf die Antwort. Zumal es dazu beitragen könnte, das Berufsbild des Seemanns attraktiver zu gestalten. Eine lange Trennung von der Familie fiele dann flach.

Aber gibt es auch Kritik. Gewerkschaften befürchten einen Jobabbau, und Kapitäne sagen, dass kein Computer die Erfahrung eines altgedienten Seemanns ersetzen könne. Die Gefahr von Unfällen sei zu groß. Jahn widerspricht: „Statistiken zeigen, dass in 70 bis 80 Prozent menschliche Fehler die Ursache für Unfälle auf See sind. Die selbstfahrenden Schiffe machen die Seefahrt also nicht nur effizienter, sondern auch sicherer.“ Im Übrigen habe sich die Diskussion gedreht: „Als wir vor ein paar Jahren mit dem Projekt begannen, wurden wir vor allem von Nautikern kritisiert, wie wir dazu kommen, Steuergelder für so einen Blödsinn auszugeben. Seitdem nun schon führerlose Autos fahren und jetzt auch führerlose Lkw getestet werden, gibt es kaum noch Kritik.“

Unterstützung bekommen die Harburger von Experten in Irland

Das Interesse an dem Projekt sei im Gegenteil stark gestiegen, sodass erste Firmen schon mit konkreten Aufträgen bei den Forschern in Harburg anklopfen würden. Bei der Entwicklung des Projekts seien nämlich zahlreiche Erfindungen gemacht worden, die der Seefahrt schon heute zugutekommen wie beispielsweise ein intelligentes Kamerasystem, das den Ausguck ersetzt und bereits getestet wurde. Die Programme zur Schiffssteuerung, die blitzschnell bestimmte Entwicklungen erfassen und gegensteuern, können schon jetzt das Navigieren einfacher und sicherer machen. „Unglücke wie das der ,Costa Concordia‘ hätten damit vermieden werden können“, sagt Jahn.

Bevor die führerlosen Schiffe über die Weltmeere fahren, müssen aber die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen werden. Darum können sich die Forscher vom CML nicht kümmern. Dazu haben sie sich Experten gesucht und an der Universität von Cork in Irland gefunden. Deren Rechtsinstitut klärt derzeit, welche gesetzlichen Änderungen notwendig sind. Schließlich will Jahn auch nicht sofort auf jegliche Besatzung verzichten. In einer Übergangszeit könnte die Brücke stundenweise dem Computer übergeben werden – etwa nachts. Schon damit könnte das Brückenpersonal entlastet und reduziert werden. Es wäre ein erster Schritt in ein neues Schiffszeitalter.