Auf einer Einwohnerversammlung in Wilhelmsburg diskutierten Spitzenpolitiker mit 400 Bürgern
Wilhelmsburg. Als Bettina Kiehn am Donnerstag um 20.05 Uhr den rund 400 Gästen im Bürgerhaus Wilhelmsburg die Politprofis vorstellte, die dreieinhalb Wochen vor der Bürgerschaftswahl zwei Stunden lang Rede und Antwort stehen sollten, gab es nur verhaltenen Applaus für die Kandidaten: die Bürgerschaftsabgeordneten Michael Neumann (SPD), Jörn Frommann (CDU) und Joachim Bischoff (Die Linke) sowie den Harburger FDP-Chef Kurt Duwe.
Anders sah es bei der einzigen Politikerin des Abends aus: der Ex-Senatorin und Spitzenkandidatin der GAL, Anja Hajduk. Sie wurde mit kaum hörbaren Beifall, dafür mit vielen Pfiffen und Trillerpfeifen begrüßt. Dazu hoben rund 50 Wilhelmsburger Plakate mit der Aufschrift "Frau Hajduk, Sie haben uns belogen".
"Einwohnerversammlung zur Bürgerschafswahl 2011" hieß der Titel des Abends, an dem die Politiker dreiminütige Statements gaben und die Bürger Fragen stellen konnten, aus denen aber meistens eineinhalbminütige Statements wurden. Überhaupt fiel auf, dass bei den großen Versammlungen im Bürgerhaus in der letzten Zeit - die meisten hatten die geplanten Verkehrsprojekte zum Thema - fast immer dieselben Frauen und Männer Fragen stellen und Statements abgeben. Ein Großteil von ihnen ist in Vereinen und Bürgerinitiativen organisiert, die meisten von ihnen sind gegen die Verlegung der Wilhelmsburger Reichsstraße auf den Bahndamm und gegen den Bau einer Hafenquerspange durch den Hamburger Süden; sehr viele sind Kirchdorfer Eigenheimer. "Es ist schon ein wenig verwunderlich", sagte der Bezirksabgeordnete Ronald Dittmer (CDU) am Rande der Veranstaltung, "dass sich bei diesen Versammlungen fast immer dieselben Menschen zu Wort melden."
Auch am Donnerstagabend entstand im Bürgerhaus Wilhelmsburg der Eindruck, dass die Verlegung der Reichsstraße das Thema sei, dass die 50 000 Elbinselbewohner - weniger als die Hälfte sind wahlberechtigt, und von dieser Hälfte wiederum dürfte nur etwa die Hälfte ihre Stimmen abgeben - am meisten bewegt. Denn als es um das Thema "Verkehrter Verkehr?" ging, kochten die Emotionen bei vielen im Saal hoch.
"Die Bürgerschaft will am 9. Februar noch auf den letzten Drücker die Finanzierung der Reichsstraßenverlegung durchpeitschen, obwohl es noch kein Verkehrskonzept für den Hamburger Süden gibt", monierte der Kirchdorfer Eigenheimer Jochen Klein von den "Engagierten Wilhelmsburgern". An Anja Hajduk gewandt rief er: "Sie waren erst gegen die Hafenquerspange, dann als Senatorin dafür, und jetzt wohl wieder dagegen. Das stinkt nach Machtgeilheit und Beliebigkeit!" Großer Applaus von den meisten Anwesenden.
Anja Hajduk, mit den meisten Spickzetteln ausgestattet, ging nicht auf die Hafenquerspange ein - im Wahlprogramm der Grünen steht, dass die "verkehrliche Notwendigkeit" dieser Autobahn "vor dem Hintergrund eines Gesamtverkehrskonzepts für den Süderelberaum neu bewertet werden" müsse. Anja Hajduk sagte: "Die Verlegung der Reichsstraße ist eine große Chance für Wilhelmsburg, die nicht vertan werden sollte. Es wird einen gemeinsamen Lärmschutz von Schiene und Straße geben, und ich würde es sehr bedauern, wenn die Reichsstraße nicht verlegt wird." Pfiffe und Trillerpfeifen im Saal.
Der SPD-Fraktionsvorsitzende Michael Neumann sagte, seine Partei werde dem Antrag des Senats zur Finanzierung der Reichsstraßenverlegung "nicht zustimmen - so wird es die Reichsstraßenverlegung mit uns nicht geben". Die SPD sei gegen eine Abfahrt Rotenhäuser Straße.
Im Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt hatte Neumann zuvor eine Reichsstraßenverlegung "vom Grundsatz her als charmant" bezeichnet. Viele Bürger im Saal hatten indes verstanden, Neumann sei prinzipiell gegen eine Verlegung. Obwohl Neumann später an Anja Hajduk gewandt sagte: "Ich kann nicht verstehen, dass Sie das mit ihrem ehemaligen Koalitionspartner in der letzten Bürgerschaftssitzung durchziehen wollen. Das kann man auch ganz entspannt im April machen." Hajduk hatte Neumann zuvor als "opportunistisch" bezeichnet.
Kurt Duwe (FDP) sprach sich auch gegen einen Bürgerschaftsbeschluss kurz vor der Wahl aus, Jörn Frommann (CDU) erhoffte sich durch die Verlegung "einen besseren Lärmschutz für 15 000 Wilhelmsburger" und Joachim Bischoff (Linke) forderte eine Bürgerbeteiligung "auf Augenhöhe".