Hamburg. Nur zwei Prozent Sehkraft: Jahrelang versteckt Erdin Ciplak aus Hamburg sein Handicap. Dann wagt er den Schritt seines Lebens.
Mit sicheren Schritten bewegt sich Erdin Ciplak durch die Straßen, über Gehwege, Treppen, Rampen. Mit seinem Blindenstock hantiert er, als würde er zu ihm gehören wie Arme und Beine. Wer den 38-Jährigen beobachtet, wie er sich durch seinen Wohnort Hamburg-Fuhlsbüttel bewegt, der ahnt nicht, dass genau dieser Blindenstock lange sein Feind war.
Sein Feind, weil dieser Stock für alle sichtbar macht, dass Erdin Ciplak blind ist, dass er manchmal Hilfe braucht, dass er nicht alles alleine kann. Dinge, die der Hamburger nicht wahrhaben wollte. Erst als er ganz am Boden war, erkannte Ciplak, dass er akzeptieren muss, was nicht zu ändern ist: Mit einer Sehkraft von zwei Prozent gilt er als blind.
TikTok: Mr. Blindlife aus Hamburg-Fuhlsbüttel kann nur Umrisse und Farben sehen
Heute versteckt er das nicht mehr. Im Gegenteil: Er macht sein Leben als Blinder in Hamburg öffentlich. Allein auf TikTok folgen Erdin Ciplak alias Mr. Blindlife mehr als 640.000 Menschen. Dazu kommen mehrere Tausend Follower auf YouTube und Instagram.
Erdin Ciplak ist einer von rund 2300 blinden Menschen in Hamburg. Mit seinen Beeinträchtigungen lebt er seit der Geburt, musste bereits rund 50 Operationen an den Augen über sich ergehen lassen. Je nach Lichtintensität kann er Umrisse, Farben und Schatten sehen.
Bis zu seinem Fachabitur konnte er damit gut leben, denn bis dahin ging er auf eine Schule für Sehbehinderte, und alle Menschen um ihn herum hatten ähnliche Probleme. Erst als er an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg sein Studium der „Sozialen Arbeit“ startete, begann die Abwärtsspirale.
Leben als Blinder: Im Ausland spürt Erdin Ciplak Beeinträchtigung mit voller Wucht
Ciplak betont: „Es lag nicht an der Hochschule und auch nicht an meinen Kommilitonen, sondern an mir.“ Was war geschehen? Der Hamburger versuchte, sein Blindsein während des Studiums zu verstecken, benutzte seinen Stock nicht, wich Situationen aus, in denen es andere hätten merken können.
Der Absturz folgte im Auslandssemester, das er in der Türkei, der Heimat seiner Eltern, verbrachte. „Dort war alles anders. Ich kannte die Straßen nicht, die Wege waren uneben, die Ampeln häufig ohne akustische Signale. Es war niederschmetternd, wie hilflos ich mich fühlte“, sagte er. Aus Angst ging er jeden Tag exakt denselben Weg und war einfach nur froh, wenn er es irgendwie nach Hause schaffte.
Nach dem Auslandsjahr kam er desillusioniert zurück nach Hamburg. Er fühlte sich zerrissen: Einerseits setzte sich Erdin Ciplak erstmals mit seiner Beeinträchtigung auseinander, indem er erste Videos bei YouTube zum Thema Blindsein online stellte, als Guide bei Dialog im Dunkeln in der Speicherstadt arbeitete und ein Orientierungstraining für Blinde im Straßenverkehr machte.
Mr. Blindlife: Blinder Influencer flüchtet sich in die Parallelwelt der Onlinespiele
Auf der anderen Seite flüchtete er sich erneut in eine Scheinwelt, brach seine Abschlussarbeit ab und spielte täglich stundenlang Onlinegames vor einem riesigen Bildschirm mit Zoom-Funktion. Seinen Mitspielern erzählte er nichts. „Es fiel lange Zeit niemandem auf, und das habe ich genossen“, erinnert er sich. Doch: „Ich wurde zunehmend depressiv“, sagt er heute rückblickend.
Über das Internet lernte er als Mr. Blindlife seine Mrs. Blindlife kennen. Sie heißt Jasmin und ist ebenfalls sehbehindert. Sie verliebten sich. Und dann war plötzlich die Kraft wieder zurück: Erdin Ciplak machte Schluss mit dem Spielen, schrieb seine Abschlussarbeit zu Ende und postete mehr und mehr Videos.
Und diese kommen auf Social Media an: Erdin Ciplak thematisiert, was Blinden das Leben immer wieder schwermacht. Sein Spezialthema: Mit der Handykamera filmt er an Bahnhöfen und U-Bahn-Stationen, dass die Leitstreifen – die geriffelten Markierungslinien auf dem Boden, an denen sich Blinde mit ihrem Stock orientieren – oft farblich verblasst, abgenutzt oder schlicht blockiert sind. „Viele Menschen merken nicht, dass sie darauf stehen oder ihren Koffer auf der Leitlinie abgestellt haben“, sagt er.
Blinder Influencer: Mr. Blindlife thematisiert immer wieder blockierte Leitstreifen
Aber auch über achtlos auf den Wegen abgestellte E-Scooter berichtet der Hamburger, genau wie Ampeln, von denen zu viele immer ohne akustisches Signal sind.
Erdin Ciplak gibt auch Tipps, testet technische Anwendungen, Hilfsmittel und Apps. „Edutainment“ nennt er das – also eine Mischung aus Entertainment und Education (Unterhaltung und Bildung). Er spricht mit seinen Inhalten auch Nicht-Blinde an, will Berührungsängste nehmen. Etwa, wenn er ihnen empfiehlt, wie sie auf Sehbehinderte reagieren sollten.
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TikTok: Blinder Influencer aus Hamburg rät, „Betroffene nicht einfach anfassen“
Seine „drei goldenen Tipps“: „Erst beobachten, dann ansprechen und gegebenenfalls Hilfe anbieten, und ganz wichtig: nicht einfach anfassen.“ Warum nicht? „Weil das nur nach Absprache sinnvoll ist und nicht jeder einfach so von Fremden berührt werden möchte.“
Und nicht zuletzt möchte er Mut machen. „Es kann ein langer und anstrengender Weg sein, sich den Herausforderungen zu stellen, aber es lohnt sich.“ Heute führe er ein selbstständiges und glückliches Leben, ist verheiratet und beruflich erfüllt. „Hätte mir vor 15 Jahren jemand gesagt, dass ich mal so erfolgreich werden und einen Chauffeur haben würde, hätte ich es nicht geglaubt“, sagt er. Einen Chauffeur? Ciplak lacht: „Ich meine die Moia-Busse. Die sind für Blinde einfach superpraktisch, und oft genug sitzt man wie bei einem Privatchauffeur alleine drin.“