Hamburg. Der Zweijährige leidet an einer seltenen Stoffwechselstörung. Wie eine Kita und das UKE die Hamburger Familie unterstützen.
Mit großen Augen folgt Toni dem Löffel in Mamas Hand, bis er in seinem Mund landet. Das Mittagessen gibt es ganz gemütlich auf dem Schoß. Dabei stützt Mama Jasmine den Kopf ihres Sohnes, damit dieser nicht zur Seite kippt. „Schmeckt das?“ , fragt sie ihn. Toni gluckst. Mit am Tisch sitzt Piet, Tonis großer Bruder. Der Vierjährige baut gerade mit großem Eifer ein Playmobil-Motorrad zusammen. Auf den ersten Blick: ein ganz normales Zusammensein mit der Familie.
Und genauso normal möchte die Familie aus Hamburg-Winterhude auch behandelt werden. Trotz allem. Denn Sohn Toni ist nicht etwa ein Säugling, der seinen Kopf noch nicht halten kann, sondern ein zweijähriger Junge, der unheilbar krank ist.
UKE Hamburg: Toni leidet an Aicardi-Goutières-Syndrom und ist unheilbar krank
Der Schritt, mit diesem privaten Schicksal an die Öffentlichkeit zu gehen, sei nicht einfach gewesen. „Aber er ist wichtig, um Aufmerksamkeit zu schaffen“, sagt Mutter Jasmine. Um die Familie zu schützen, möchten sie ihren Nachnamen allerdings lieber für sich behalten.
Die Diagnose kam, als Toni gerade sieben Monate alt ist. Er leidet an dem sehr seltenen Aicardi-Goutières-Syndrom. Das ist eine erblich bedingte Stoffwechselstörung, die zur Gruppe der Leukodystrophien gehört. Die Folgen sind dramatisch: Die weiße Gehirnsubstanz wird angegriffen, nach und nach wird das zentrale Nervensystem im Gehirn zerstört.
Betroffene Kinder verlieren so nach und nach ihre Fähigkeiten und alles, was sie bisher erlernt haben: laufen, krabbeln, sprechen, essen, greifen. Weltweit sind nur bis zu 150 Fälle dokumentiert. Eine Chance auf Heilung gibt es nicht.
Rückblickend war das alles lange nicht zu erahnen: Die Schwangerschaft und Geburt verliefen unkompliziert. Und auch in den ersten Monaten schien sich Toni normal zu entwickeln. Er sei zunächst ein ruhiges Baby gewesen, sagt Jasmine, aber durchaus wach. Und irgendwann habe er sogar erste Versuche unternommen zu robben.
Aicardi-Goutières-Syndrom: Probleme mit den Händen waren der Anfang
Und dennoch glaubten Jasmine und Vater Arne zu beobachten, dass etwas nicht stimmt. „Er schien Probleme damit zu haben, die Hände richtig zu benutzten. Mit dem Spielebogen konnte er zum Beispiel nichts anfangen. Aber wir dachten zunächst: So ist es halt. Kinder entwickeln sich unterschiedlich.“
Doch dann war da der Krabbelkurs für Babys zwischen sechs und neun Monaten. Im direkten Vergleich zu anderen war das Bauchgefühl dann nicht mehr zu überhören: „Irgendetwas stimmt nicht.“ Während die anderen Kinder durch die Gegend robbten und nach Rasseln und anderem Spielzeug griffen, konnte Toni noch immer nicht gezielt greifen. „Er war außerdem total reizüberflutet und weinte viel“, erinnert sich Jasmine.
Dazu kamen massive Schlafprobleme. „Er hat fast nie länger als zehn Minuten am Stück geschlafen.“ Jasmine und Arne wechselten sich Nacht für Nacht ab, bis sie schließlich mit den Kräften am Ende waren. Es folgten etliche Gänge zum Kinderarzt. Zunächst stand ein Magen-Darm-Infekt als mögliche Ursache im Raum.
UKE Hamburg: Schwierige Diagnose und sieben Tage lang Diagnostik
Doch die motorischen Verzögerungen wurden auch immer offensichtlicher. Bei einer weiteren Untersuchung wurden schließlich hohe Entzündungswerte in den Muskeln festgestellt. Und dann ging alles ganz schnell. Es folgte eine direkte Überweisung zum Kinderneurologen. Und der Fachärztin war sofort klar: Das ist ein Notfall. Noch am selben Tag ging es in die Kinderneurologie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE).
Sieben Tage verbrachte Jasmine mit ihrem Sohn dort. Eine komplette neurologische Diagnostik stand auf dem Plan. Diese blieb zunächst ohne Ergebnis, bis ein MRT-Bild dann doch auffällig war. „Das Bild zeigte, dass Tonis motorische Zentren im Gehirn verkalkt und verändert waren“, erinnert sich Jasmine. Der Grund dafür blieb aber zunächst unbekannt.
Und so setzten sie alle Hoffnungen in eine Gen-Analyse. Das Ergebnis sollte innerhalb der folgenden vier bis sechs Wochen vorliegen, hieß es. In dieser Zeit verschlechterte sich Tonis Zustand weiter. Er litt an Krampfanfällen, musste über eine Magensonde ernährt werden.
Aicardi-Goutières-Syndrom: Diagnose kam per Telefon und warf Fragen auf
Als der Anruf bereits nach drei Wochen kam, war den Eltern sofort klar: „Das kann nichts Gutes heißen.“ Mit Erhalt der Diagnose gab es zunächst mehr Fragen als Antworten. Was heißt das denn jetzt?
„Das Problem ist, dass sich mit diesem seltenen Gen-Defekt kaum jemand wirklich auskennt. So sagte man uns zum Beispiel zunächst, dass Toni vieles aufholen können würde, dass er aber gegebenenfalls einen Platz in einer integrativen Kita bräuchte“, erinnert sich Jasmine.
Kinder-UKE: Expertin für Leukodystrophien verdeutlichte Diagnose-Ausmaß
Erst der Kontakt zu Dr. Annette Bley, Stoffwechselexpertin im Kinder-UKE, brachte ihnen Klarheit und verdeutlichte das Ausmaß der Diagnose. Die erfahrene Medizinerin leitet seit vielen Jahren die dortige Spezial-Sprechstunde für Leukodystrophien.
Die Eltern erfuhren, dass sie beide ein defektes Gen in sich tragen, dass bei Toni zu dieser Erkrankung geführt hat. Bei dem Gespräch mit Dr. Bley fiel auch das erste Mal das Wort, das fortan im Raum stand: lebensverkürzend.
Aicardi-Goutières-Syndrom: Hilfe gibt es in Spezial-Sprechstunde am UKE
Dr. med. Annette Bley betreut die Familie seit der Diagnose, arbeitet seit 16 Jahren im Bereich Leukodystrophien und bietet eine spezielle Sprechstunde an. Sie erklärt: „Bei Leukodystrophien wird die weiße Gehirnsubstanz angegriffen, die dafür sorgt, dass die Zellärmchen miteinander verbunden sind und Ströme besser laufen.“
Unter den Oberbegriff Leukodystrophien würden rund 50 Krankheiten fallen. Und jede dieser Krankheiten sei selten. „Wir sehen im Jahr in der Sprechstunde etwa 150 Kinder“, so Bley.
„Den verschiedenen Leukodystrophie-Formen liegen unterschiedliche Krankheitsmechanismen zugrunde, gemeinsam aber haben sie, dass die weiße Gehirnsubstanz fortschreitend zerstört wird.“
Leukodystrophien: „Es ist ein Waisenkind der Forschung“
Zum aktuellen Stand der Forschung sagt Bley: „Leukodystrophien sind ein Waisenkind-Bereich der Forschung. Das liegt daran, dass es zu geringe Patientenzahlen gibt. Das Interesse der Pharmafirmen ist also nicht so groß.“
Seit einigen Jahren verzeichne sie aber dennoch positive Entwicklungen. „Es gibt spezielle Zulassungsbedingungen für Therapien von seltenen Erkrankungen, die einiges einfacher machen. Inzwischen haben wir sogar zwei zugelassene Therapien von Leukodystrophien.“ Diese würden jedoch anderen Formen als die von Toni betreffen.
Spezialistin vom UKE Hamburg: „Die Überbringung der Diagnose ist belastend“
Wer mit Dr. Annette Bley spricht, der spürt, dass ihr das Thema nahegeht. Oft ist sie diejenige, die die Diagnose überbringen muss. „Wir sind gut geschult und haben ein festes Team, das Rückhalt bietet, aber auch nach all den Jahren sind diese Momente für mich sehr belastend.“
Insbesondere, weil man den meisten Kindern keine kurative, also heilende, Behandlung anbieten könne, sondern nur eine palliative. Bei Fällen wie Toni würde man individuelle Heilversuche unternehmen. „Damit ist meistens gemeint, dass nicht zugelassene Medikamente, von denen man sich erhofft, dass sie den Krankheitsfortschritt verlangsamen oder aufhalten, gegeben werden.“
UKE-Ärztin: „Man darf sich nicht abwenden, sonst wird es nicht besser“
Es würde einfachere Bereiche geben, sagt Bley. Etwa einen Blinddarm zu operieren. Damit würde man schneller Erfolge erzielen. Bei den Leukodystrophien sei das anders. Schnelle Erfolge gebe es derzeit nicht. „Aber wenn man sich abwendet, dann wird es nicht besser“, sagt Bley.
Und so hat sie sich dazu entschieden, hinzugucken und ihre Arbeit den Kindern mit dieser Krankheit zu widmen. Sich auszutauschen, an neuen Therapien und Diagnostik-Methoden zu forschen, mit anderen Forschern und Experten auf der ganzen Welt zu sprechen, um irgendwann mehr anbieten zu können. Vielleicht sogar eine Heilung. Denn klar sei: „Für die Betroffenen ist es ein Wettkampf gegen die Zeit.“
Diagnose Aicardi-Goutières-Syndrom: Tonis Eltern wissen, dass Krankheit bleibt
Als Jasmine und Arne von dem Gespräch mit Dr. Bley nach Hause kamen, war ihnen erstmals klar: „Diese Krankheit schreitet immer weiter fort. Es wird nicht mehr besser.“ Und: „Wir brauchen Hilfe.“
Und die fanden sie: Zum einen betreut das UKE die Familie mit Dr. Bley seitdem engmaschig. Zum anderen fanden sie Hilfe bei dem psychosozialen Dienst des UKE und bei der Stiftung Kinderlotse. Hier bekamen sie auch Unterstützung bei allen Dingen, die sie nach der Diagnose angehen mussten: Anträge an die Krankenkasse erstellen, Pflege und Physiotherapie organisieren, unzählige Dokumente und Formulare ausfüllen, die Nachsorge organisieren. „Das hätten wir alleine nicht geschafft“, sagt Jasmine.
Integrative Kita „Kinderhaus Knickweg e. V.“ in Hamburg hilft, wo sie kann
Inzwischen ist der Familienalltag eingespielt. Und das liegt zu einem großen Teil an der integrativen Kita „Kinderhaus Knickweg e. V.“, in die beide Kinder gehen. Dort besucht Toni die Krippe und Piet den Elementarbereich. „Das Entgegenkommen der Kita ist immens. Wir sind unendlich dankbar, dass auch Toni in der Kita einfach das sein kann, was er ist: ein Kind“, sagt Jasmine.
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Ganz konkret heißt das auch, dass die Kita dann einspringt, wenn die Krankenkasse mal wieder einen Antrag ablehnt. Dann wird die Mobilisierungshilfe eben aus eigener Kasse bezahlt. Die Haltung der Kita sei hier immer klar gewesen: „Es zählt, dass er eine glückliche Kindheit haben kann. Und wir tun alles, um das zu ermöglichen“, berichtet Tonis Mutter Jasmine.
Unheilbar krank mit Aicardi-Goutières-Syndrom: Andere Kinder nehmen ihn, wie er ist
Wie der große Bruder Piet mit all dem umgeht? „Er spürt natürlich, dass etwas nicht stimmt, dass es mit seinem Bruder anders ist als mit den anderen Geschwisterkindern“, sagt Jasmine. Aber durch die integrative Kita würden die Kinder es als ganz normal erleben, dass jeder eben anders sei. „Die Kinder nehmen Toni, wie er ist. Sie vergleichen nicht ständig. Toni ist halt Toni. Und das ist da auch okay so.“
Die Betreuung in der Kita ermöglicht es Jasmine und Arne, weiter berufstätig zu sein. Beide teilen sich zusammen die Führungsposition in einer veganen Produktionsküche. „Es ist uns beiden wichtig, dass wir ein normales Leben weiterführen“, sagt Jasmine.
Im Alltag bedeutet das ein hohes Maß an Organisation. „Allein schon, damit Piet nicht zu kurz kommt.“ Die Familie habe etliche Angebote bekommen, um den großen Sohn extern betreuen zu lassen, erzählt die 33 Jahre alte Jasmine.
Das Hamburger Familien-Projekt seit der Diagnose: „Wir schaffen das“
Aber sie sagt: „Wir wollen ihn nicht weg organisieren, nur weil der kleine Sohn krank ist.“ Das Familien-Projekt heißt: Wir schaffen das zusammen. Das heißt: feste Zeiten, auch für Piet. Fürs Vorlesen und Spielen mit dem gesunden Kind wechseln sich die Eltern ab. „Es ist auch Piets Kindheit“, sagen sie.
Ob die Begrenztheit der gemeinsamen Zeit jeden Tag im Fokus stehe? „Nein“, sagt Jasmine. „Das würde man im Kopf gar nicht aushalten. Wir schauen von Tag zu Tag und versuchen, das Beste draus zu machen, auch wenn wir es uns natürlich anders vorgestellt haben.“
Krankes Geschwisterkind: Der große Bruder darf genervt sein
Zum normalen Umgang mit der Erkrankung gehöre auch, dass Piet das Recht habe, genervt von seinem kleinen Bruder zu sein, der immer Mamas Arm blockiert und der viel weint. „Das gehört dazu. Das ist in anderen Familien auch nicht anders“, sagt Jasmine.
Ein Kraftakt sei das aber allemal. Für das kommende Jahr hat die Familie eine Entlastungswoche in einem Kinder-Hospiz geplant, damit alle einmal durchatmen können, aber auch, um sich mit der Lebensverkürzung und dem Tod auseinanderzusetzen. „Wir glauben nicht an Wunder“, sagt Jasmine. „Aber wir glauben daran, dass wir unseren Kindern trotz allem eine schöne Kindheit schenken können.“
So können Sie helfen::
Die Forschung und internationale Zusammenarbeit spielen im Kampf gegen seltene Erkrankungen eine entscheidende Rolle. Das UKE ist intern, aber auch international gut vernetzt, Forschungsansätze und -arbeiten werden ausgetauscht. Finanziell unterstützt wird die hoch spezialisierte Abteilung durch Spenden an das UKE und den Freundeskreis für Kinder mit Demenz.
UKE gemeinnützige GmbH, Verwendungszweck: Leukodystrophien
IBAN: DE54 200 50 550 1234 363636
Freundeskreis UKE für Kinder mit Demenz e. V.
DE62 2005 0550 1208 1240 22
Stiftung Kinderlotse:
DE18 2005 0550 1500 4313 07
Kinderhaus Knickweg e. V.
DE44 4306 0967 2008 2306 02