Hamburg. Wenn behinderte Kinder 18 werden, sind viele Familien in Hamburg auf sich gestellt. Das fordern verzweifelte Eltern von der Stadt.
Zwei selbst gestaltete Foto-Kalender liegen auf dem Esstisch von Annette Heilmann. Der erste ist aus dem Jahr 2013. Die Fotos darin zeigen ein sechsjähriges Mädchen, das glücklich in die Kamera strahlt, das im Wasser planscht, das tobt, das Spaß mit den Großeltern hat. Der zweite Kalender ist aus diesem Jahr. Die Bilder darin zeigen eine junge Frau im Rollstuhl, der Kopf gestützt, die Gesichtszüge wirken starr. Beide Kalender zeigen denselben Menschen: Annette Heilmanns Tochter Margarita.
Annette Heilmann zeigt die Bilder, um begreifbar zu machen, wie sich ihre Tochter Margarita von einem scheinbar gesunden Kind zu einer schwerbehinderten jungen Frau entwickelt hat. Margarita hat das Rett-Syndrom, ein Gen-Defekt mit folgenschweren Symptomen. Im ersten Jahr entwickeln sich die betroffenen Kinder meist normal, dann kommt es zum Entwicklungsstillstand, später zu Rückschritten.
Und wäre das nicht schon schwer genug, kämpft die Familie seit Jahren um einen Betreuungsplatz für ihre Tochter. Damit sie auch nach ihrem 18. Lebensjahr in Hamburg einen Platz im Leben hat.
Mutter von behinderter Tochter in Hamburg: „Wir stehen vor dem Nichts“
Das Rett-Syndrom schränkt die Fähigkeit zu sprechen und sich zu bewegen stark ein, Epilepsie und Spastiken gehören meist dazu. Auch die geistige Entwicklung ist stark eingeschränkt. Am Tag der Diagnose, es ist der 16. Juli 2008 – Margarita ist etwas älter als zwei Jahre alt – bringt Annette ihre Tochter zu einer Freundin aus der Kita.
Etwas später ruft eine zuvor konsultierte Ärztin bei ihr an. Der Verdacht habe sich bestätigt: Es ist das Rett-Syndrom. Annette Heilmann hatte schon danach gegoogelt. Sie ahnt, was das bedeutet. Als sie wenig später vor dem Haus der Freunde steht, um ihre Tochter abzuholen, weiß sie: „Das war der letzte Tag, an dem wir dazugehört haben. Jetzt sind wir in einem anderen Club.“
Margarita (17) kann nicht sprechen und sich kaum selbstständig bewegen
Die ersten Jahre nach der Diagnose verschlimmern sich die Symptome nur langsam. Ab etwa elf Jahren nehmen die Einschränkungen deutlich zu. Heute ist Margarita 17 Jahre alt. Sie kann nicht sprechen und sich kaum selbstständig bewegen. Mit ihrer Umwelt kommuniziert sie rudimentär mit einem augengesteuerten Computer und mit ihren Blicken.
Seit einigen Jahren lebt sie unter der Woche im Erlenbusch, einer Einrichtung der Martha Stiftung in Volksdorf – die einzige in Hamburg für Kinder mit komplexen Körper- und Mehrfachbehinderungen – und besucht die Schule am Tegelweg in Farmsen-Berne, eine Förderschwerpunkt-Schule für Kinder mit Einschränkungen.
An den Wochenenden kümmern sich Annette Heilmann und der Vater von Margarita gemeinsam um ihr Kind. Hinter der Familie liegen Jahre der Schwerstarbeit. Sechs Leitz-Ordner sind voll mit Anträgen auf Hilfsmittel, auf Zuschüsse der Kassen, Hunderte Seiten Korrespondenz mit Ärzten, Einrichtungen, Rechtsanwälten. Bis heute müssen die Eltern jeden Arztbesuch, jeden Behördengang begleiten. „Die Verzweiflung war oft groß“, sagt Annette Heilmann. „Aber sie war nie so groß wie jetzt.“
Der Grund dafür: Die Schule am Tegelweg kann Margarita nur noch bis zum nächsten Sommer besuchen. Danach endet für das Mädchen die Schulpflicht. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass sich ab dem Moment der Volljährigkeit eine Betreuungslücke auftut, die Annette Heilmann derzeit große Angst macht.
Schwere Behinderungen: Plätze in Tagesförderstätten fehlen
Während Jugendliche mit einer weniger stark ausgeprägten Behinderung entweder eine Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt oder in einer Behindertenwerkstatt finden, sieht es für Margarita anders aus. Für Jugendliche mit so großen Einschränkungen sind Tagesfördereinrichtungen vorgesehen, die Menschen mit schweren Behinderungen eine Tagesstruktur und kleinere Aufgaben geben.
Schon vor Jahren hat Annette Heilmann begonnen, sich um eine Folgebetreuung in einer Tagesförderstätte und eine geeignete Wohngruppe für Margarita zu kümmern – denn auch die Betreuung im Erlenbusch endet eigentlich mit Erreichen der Volljährigkeit und dem Ende der Schulpflicht. Bisher ohne Erfolg. „Wir stehen vor dem Nichts, und ein Licht am Ende des Tunnels ist einfach nicht sichtbar“, sagt Heilmann.
Seit der Diagnosestellung ist die 57-Jährige Mitglied im Verein „Leben mit Behinderung“ und weiß, dass viele Eltern ähnliche Probleme haben.
Verein „Leben mit Behinderung“ fordert hamburgweite Initiative
Das bestätigt auch Kerrin Stumpf, Geschäftsführerin des Vereins: „Wir haben in Hamburg eine massive Mangelsituation, sowohl was die Wohngruppen als auch was die Tagesförderstätten angeht. Nach Rücksprache mit den Anbietern wissen wir, dass im vergangenen Jahr 150 Menschen keinen Platz in einer Wohngruppe gefunden haben. Dahinter stehen 150 Familienschicksale. Die Not der Eltern und der betroffenen Menschen mit Behinderungen ist groß.“
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In Hamburg stelle es sich so dar, dass mit dem Erreichen der Volljährigkeit eine Betreuungslücke klafft. Es fehle an Anbietern, an Fläche und vor allen Dingen auch an Pflegepersonal. „Insbesondere sogenannte Heilerziehungspfleger, die für Menschen mit komplexen Einschränkungen wichtig sind, fehlen in den Einrichtungen. Während andere Pflegeausbildungen aufgewertet wurden, ist diese konkrete Ausbildung nicht bedacht worden. Wir brauchen ganz klar eine hamburgweite Initiative, um die Situation zu verbessern.“
Betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen Teilhabe ermöglichen
Stumpf betont: „Für die Menschen mit Behinderungen ist es ein verheerendes Signal, dass sie nirgendwo gewollt sind. Wenn sie dann noch erleben, wie ihre Eltern, die auch älter werden und die nicht mehr die Kraft wie in jungen Jahren haben, an ihre Grenzen stoßen, ist das sehr belastend.“
Für die betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen sei es enorm wichtig, dass ihnen Teilhabe ermöglicht wird. „Findet das Leben nur noch in der Wohnung der Eltern statt, wirkt sich das negativ auf ihre Entwicklung aus, weil der Input fehlt.“
In der vergangenen Woche hat sich der Verein mit einem offenen Brief an die Sozialbehörde gewandt, die aktuelle Situation geschildert und klare Forderungen gestellt. So heißt es in dem Schreiben: „Wir erwarten, dass die Stadt Hamburg umgehend die Bedarfe der Menschen mit komplexen Behinderungen quantitativ erfasst, überplant und mit geeigneten Angeboten deckt.“
Die Sozialbehörde hat sich bis Donnerstagnachmittag nicht geäußert.
„Über allem schwebt die Angst, keine gute Betreuung zu finden“
Klar ist: Die Belastung in den Familien ist groß. Schon vor Jahren hat Annette Heilmann ihre Leitungsposition am Schauspielhaus aufgegeben, um sich besser um ihre Tochter kümmern zu können. Seitdem verdient sie weniger und wird deswegen eine niedrigere Rente erhalten.
„Über allem schwebt gerade die Angst, dass wir keine gute Betreuung für unsere Tochter finden. Denn klar ist, wenn wir sie zu Hause betreuen müssen, dann heißt das, dass ich meinen Job aufgeben muss, und das bedeutet dann mit Hartz IV leben zu müssen“, sagt Heilmann.
Eltern von behinderten Kindern „müssen viel aufgeben“
Annette Heilmann wählt ihre Worte bewusst, wenn es darum geht, dass auch sie Bedürfnisse hat. Dass sie sich das einmal alles anders vorgestellt hat. „Natürlich wächst man da rein, natürlich lieben wir unsere Tochter über alles, natürlich tun wir alles für sie“, sagt sie. „Aber wir müssen auch viel aufgeben. Freunde, gute Jobs, das Leben, das wir hatten“, sagt sie.
„Hochgehalten hat mich früher der Gedanke, dass ich zwar immer für meine Tochter da sein werde, aber dass ich irgendwann auch wieder ein eigenes Leben führen kann – und Margarita übrigens auch“, so Heilmann. „Damals wusste ich nicht, dass es diese Option in Hamburg offensichtlich nicht gibt.“