Hamburg. Blutbad bei Zeugen Jehovas. Philipp F. hatte die Tatwaffe legal erworben und wurde nach einem Hinweis von der Polizei überprüft.

Sie wollten Gottesdienst feiern, zusammen beten, reden, sich austauschen. Viele von ihnen dürften sich gefreut haben auf diesen Abend zusammen. Sie sind zu 36, als der Terror über sie hereinbricht. Durch ein Seitenfenster feuert Philipp F. auf die betenden Menschen an diesem Donnerstagabend, dringt dann durch die zerborstene Scheibe in das Gotteshaus ein. Dabei feuert F. ohne Unterlass weiter. Magazin um Magazin wandert in die halbautomatische, legal zugelassene Waffe. 25 weitere Zeugen Jehovas erleben den Amoklauf am Bildschirm mit. Sie sind dem Gottesdienst digital zugeschaltet. Das sagt Michael Tsifidaris.

Der „Regionale Beauftragte für die Länder Bremen, Hamburg und Niedersachsen“ bei den Zeugen Jehovas ist mit zwei Begleitern am Freitag in die Pressekonferenz ins Polizeipräsidium nach Alsterdorf gekommen. Er behauptet, seine Glaubensgemeinschaft habe Philipp F. nicht ausgeschlossen, der Mann sei freiwillig gegangen.

Ärger über einen Rausschmiss und Zoff mit dem Arbeitgeber, das sind die beiden möglichen Motive, die an diesem Tag in Hamburg die Runde machen. Geklärt ist es nicht. Wenig steht bislang fest zu Motiv und Hintergrund. Sicher ist sich die Hamburger Polizei nur: Opfer und Täter waren nicht verwandt. Das sagt Thomas Radszuweit, der Leiter des Staatsschutzes bei der Hamburger Polizei.

Amoklauf in Hamburg: Konsequenzen für Waffenbesitzer

Die Staatsanwälte überprüfen noch in der Nacht den Hintergrund von Philipp F. Nur: Es gibt keine relevanten Einträge. Keine Strafanzeigen, keine Verfahren gegen ihn. Aber sie stoßen auf eine Betrugsanzeige, die F. selbst erstattet hatte. Der Chef der Hamburger Staatsanwaltschaft, Ralf Anders, berichtet von einer Anzeige, die F. am 16. Januar gegen ein Unternehmen in München erstattet hat. Hier hatte der gebürtige Memminger F. studiert, von hier wechselte er 2014 nach Hamburg.

Laut seiner Webseite befand sich der Firmensitz des „Finanzberaters“ Philipp F. am Ballindamm 27 mit Blick auf die Binnenalster. In der zweiten Etage des Hauses, in dem sich auch die Privatbank Donner und Reuschel befindet, vermietet die Büroflächenvermietung Satellite Office GmbH Büroflächen und Firmensitze. Wie es laut einer Sprecherin des Unternehmens heißt, bestand zwar ein festes Vertragsverhältnis mit Philipp F. Allerdings habe der mutmaßliche Täter kein festes Büro gemietet und sich auch nicht in den Büros aufgehalten. Offenbar hatte er nur den Briefkasten der seriösen Adresse nutzen wollen.

Was hat den 35-Jährigen dazu getrieben, offensichtlich wahllos in die Menschenmasse zu feuern? Auf Menschen, die er als ehemaliges Mitglied der Gemeinde zum Teil gut gekannt haben dürfte? Philipp F. war einer der ihren – bis er vor eineinhalb Jahren ausschied. Warum, da ist sich die Polizei nicht so sicher wie Michael Tsifidaris. Einige Zeugen bestätigen den vernehmenden Beamten die Version von Tsifidaris, F. sei freiwillig gegangen. Andere erzählen, die Zeugen Jehovas hätten ihn ausgeschlossen.

Was weiß die Polizei über Philipp F.?

Was weiß die Polizei von dem Mann: Philipp F, 35, ist ein Sportschütze mit Waffenbesitzkarte und registrierter, legaler Heckler+Koch-Pistole P30. Das ist eine halbautomatische Waffe. In den Akten finden die Polizisten in den Stunden nach dem Amoklauf den Hinweis auf den 6. Dezember 2022. Erst seit wenigen Monaten besitzt Philipp F. eine Waffenbesitzkarte. Den Kauf der halbautomatischen Heckler+Koch-Pistole meldete er am 12. Dezember der Waffenbehörde, also der Polizei.

Nur kurze Zeit später geht ein anonymer Hinweis bei der Polizei ein. Wer ihn schreibt, ist bis heute nicht bekannt. Dass F psychisch instabil sein könnte, heißt es in dem Schreiben. Und dass man doch bitte mal für eine Routinekontrolle von Mann und Waffe in der Altonaer Wohnung von F. vorbeischauen sollte.

Philipp F. zeigt sich bei der Überprüfung kooperativ und hilfsbereit

Und die Waffenbehörde startet eine Zuverlässigkeitsprüfung. Fragt ihr System nach F. ab , googelt, was sie über den Mann finden kann. Recherchiert in allen öffentlich zugänglichen Quellen – und in den internen Unterlagen, wie Polizeipräsident Ralf Martin Meyer am Freitag sagt. Schließlich winken Polizei, Verfassungsschutz und Staatsschutz ab: Sie können laut Meyer keine Hinweise auf eine psychische Störung finden, keine Anzeigen, kein Fehlverhalten.

In einem nächsten Schritt stehen am 7. Februar unangekündigt zwei Beamte vor F.s Wohnungstür. F. gibt sich kooperativ, wie Polizeipräsident Ralf Martin Meyer erzählt. Lässt die Beamten in die Wohnung, lässt sich auf ein „offenes Gespräch“ ein, wie Meyer sagt. Wie vorgeschrieben liegt die Pistole im Tresor. Genau wie die Munition. Nur eine Patrone steht außen auf dem Tresor. Das reicht zwar laut Meyer für eine offizielle mündliche Ermahnung, aber nicht für mehr. „Es gab keine relevanten Beanstandungen“, sagt der Polizeipräsident. Die Polizei habe keine weitere rechtlichen Möglichkeiten mehr gesehen, gegen F. vorzugehen. „Wir haben unsere Maßnahmen ausgeschöpft“, sagt Meyer. Das Problem sei die Anonymität der Anzeige gewesen. Dadurch habe es keine weiteren Ermittlungsansätze mehr gegeben.

Ralf Martin Meyer kündigt am Freitag Konsequenzen für Waffenbesitzer an und den behördlichen Umgang mit ihnen. „Wir werden die rechtlichen Abläufe genau analysieren und die Befugnisse anpassen“, sagte Meyer. Mit Blick auf die geltende Rechtslage sei die Kontrolle richtig abgelaufen. „Aber mit Blick auf die Tat reicht es nicht aus“, sagt Meyer am Freitag. Innensenator Andy Grote kündigte Gespräch auf Bundesebene zur Verschärfung des Waffenrechts an. „Aber noch gibt es in Teilen der Bundesregierung Widerstand.“

Amoklauf Hamburg: Auch Faeser fordert schärferes Waffenrecht

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) äußerte sich derweil am Freitag in den ARD-"Tagesthemen" zu einer möglichen Verschärfung. Sie will den Entwurf zur Änderung des Waffengesetzes noch einmal prüfen. Man müsse sicherlich noch mal „an das Gesetz gehen und schauen“, ob es noch Lücken gebe, sagte sie.

Im Waffengesetz solle beim Antrag auf eine Waffenbesitzkarte künftig überprüft werden, „ob jemand psychologisch geeignet ist“. Dazu brauche man mit den Gesundheitsbehörden eine Überprüfung, so Faeser. „Wir wollen vor allen Dingen eine bessere Vernetzung zwischen den Behörden.“ Das sei zum Beispiel bei einem Wohnortwechsel wichtig.

Bei der ersten Erteilung einer solchen Karte solle es ein ärztliches Attest geben. Alle Sportschützen in Deutschland ohne Hinweise regelmäßig zu untersuchen, wäre aus Faesers Sicht aber sehr schwierig. „Es sollte natürlich in Maßnahmen auch verhältnismäßig sein.“ Die furchtbare Tat in Hamburg zeige aber, wie notwendig Änderungen im Waffengesetz seien.

Nach Amoklauf in Hamburg: Debatte über Waffenrecht entbrannt

Auch der Innenexperte der Grünen-Bundestagsfraktion, Marcel Emmerich, forderte eine zügige Reform. Ein Verbot von halbautomatischen Pistolen für Privatleute müsse geprüft werden, sagte der Politiker. Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Bundestagsfraktion, Irene Mihalic, sagte, es sei „mehr als fragwürdig“, warum derzeit nur Unter-25-Jährige ein amtsärztliches oder psychologisches Gutachten vorlegen müssen.

Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Jochen Kopelke, forderte die Bundesregierung zu einer unverzüglichen Verschärfung des Waffenrechts sowie deutlichen Reduzierung von Waffen auf. Die private Aufbewahrung von Sportwaffen müsse ebenfalls unter die Lupe genommen werden.

Amoklauf in Hamburg: FDP-Vizefraktionschef fordert "präzise Aufarbeitung der Hintergründe"

Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Sebastian Hartmann, sagte, es müsse geklärt werden, warum die Kontrollen des Hamburger Täters offenbar keine Anzeichen für eine Gefahr lieferten und nicht zu einem Entzug der Waffenbesitzerlaubnis führten. Bei der anstehenden Reform des Waffenrechts müssten die Handlungsmöglichkeiten der Behörden ebenso geprüft werden wie der Datenaustausch zwischen ihnen.

Ähnlich äußerte sich FDP-Vizefraktionschef Konstantin Kuhle, er betonte: „Ohne präzise Aufarbeitung der Hintergründe verbieten sich Forderungen nach gesetzgeberischen Konsequenzen.“ Im Nachgang zu der Tat in Hamburg müsse nun aufgeklärt werden, „warum die Waffenbehörde von einer Entziehung der waffenrechtlichen Erlaubnis abgesehen hat“, sagte der Innenexperte. Psychisch kranke Personen dürften keine Schusswaffen besitzen. „Es ist gut und richtig, dass das Waffenrecht dies schon heute unmissverständlich regelt“, sagte Kuhle.