Hamburg. An einem Nissan in Eppendorf wurde eine beleidigende Nachricht hinterlassen. Daraufhin artete eine Diskussion im Netz völlig aus.
Es war als ein launig-nachdenkliches Posting gedacht – aber das, was dann kam, konnte einem die Laune eher verderben. In der Eppendorfer Erikastraße hatte ich kürzlich einen Zettel unter dem Scheibenwischer eines blauen Nissan Qashqai klemmen sehen. "Schon mal darüber nachgedacht, Verantwortung zu übernehmen? Oder braucht das Ego so eine Protzkarre?", stand darauf.
Ich fotografierte den Zettel und das gar nicht sooo protzig aussehende Auto und postete die Bilder bei Facebook – mit diesem Text: "Uups. Jetzt zettelt die private Moralpolizei in Hamburg schon Autos ab. Hab mich noch nicht entschieden, ob ich das lustig, bescheuert oder bedrohlich finden soll. Ob die Privatknöllchenschreiber wohl auch so eine Art Uniform tragen, so wie einst die 'Scharia-Polizei'? (Gesehen in Eppendorf, nicht mein Auto)." Dazu stellte ich das Symbol für ein nachdenkliches Gesicht.
CDU-Politiker spricht von "mittelalterlichem Pranger"
Kaum hatte ich Fotos und Frage veröffentlicht, überschlugen sich die Kommentare. Binnen weniger Stunden wurde das Foto Hunderte Male kommentiert und mehr als 150 Mal geteilt. Dabei überwog zunächst die Empörung über den Zettelschreiber.
"Als nächstes werden dann Reifen zerstochen, Lack zerkratzt und Scheiben eingeschlagen ... die Spaltung unserer Gesellschaft schreitet mit großen Schritten voran und bald ist jeder irgendwie außerhalb der Gesellschaft", schrieb ein Kommentator. "Frage mich gerade, welchen Zettel der Verfasser an einem Maserati hinterlassen würde. Seine Protzkarren-Schwelle scheint ja eher niedriger zu hängen", witzelte eine andere. "Nach dem mitteralterlichen Ablasshandel der Grünen-Wähler nun der mittelalterliche Pranger", schrieb ein CDU-Politiker. "Mich irritiert nur, dass dort doch die Grünen unendlich hohe Wähleranteile haben".
"Wir verstecken unsere eigene Minderwertigkeit hinter Nachhaltigkeitsargumenten so gut, dass wir selbst schon nicht mehr erkennen, wie neidzerfressen wir sind", befand ein Kommentator. Einige Diskutanten warfen dem Zettelschreiber eine "Blockwartmentalität" vor. Ein Hamburger SPD-Politiker dagegen fragte lakonisch: "Seit wann baut Nissan Protzkarren?"
Die neue "RAF-Klimaschutz-Terrorgruppe" und "Moral-Faschisten"
Mit der Zeit wurden die Töne immer schärfer. Als einen möglichen "Vorgänger der neuen RAF-Klimaschutz-Terrorgruppe" ordnete ein CDU-Poster den Zettelschreiber ein. Manche sahen gar "Moral-Faschisten" oder schlicht "Faschos" am Werk. Andere dagegen wiesen auf den schrecklichen Unfall in Berlin mit vier Toten hin, der durch einen SUV-Fahrer verursacht wurde – oder kritisiserten, dass SUVs in Städten doch wirklich überflüssig seien, extrem viel Platz und Sprit verbrauchten und die Debatte immer unsachlicher werde. Was auch stimmte.
Am Ende wurde vor allem der Ton von Seiten der Zettel-Kritiker so scharf, entgrenzt und beleidigend, dass ich einige Kommentatoren blockieren und das Posting von "Privat" auf "Nur Freunde" stellen musste.
Für den ADAC sind solche empörten Zettel an Autos und die hitzigen Debatten über das moralische Richtige auch Ausgeburt eines "sehr angespannten Verkehrsklimas in Hamburg, bei dem sich Autofahrer, Fußgänger und Radfahrer gegenseitig vorwerfen, sich rücksichtslos zu verhalten und sich nicht an Regeln zu halten". Niemand habe aber das Recht, "andere Menschen zu verurteilen und persönlich zu verunglimpfen, nur weil man deren Auto nicht mag", so ADAC-Sprecher Christian Hieff.
"Auch sollte sich niemand moralisch überlegen fühlen, weil man ein kleineres Auto fährt oder sich zu Fuß oder mit dem Rad durch die Stadt bewegt." Hamburg brauche "eine höhere Toleranz unter den Verkehrsteilnehmern und ein größeres Miteinander statt Polemiken und pauschale Verurteilungen“. Dabei könne man durchaus darüber streiten, "ob ein großer SUV das passende Fahrzeug in der Stadt ist".
SUVs als "absurdes Symbol für autozentrierte Verkehrspolitik"
Der Fahrradclub ADFC wertet "solche privaten Aktionen" mit Zetteln an Windschutzscheiben als "Ausdruck von Wut und Hilflosigkeit, weil die Politik nichts oder zu wenig gegen den Irrsinn unternimmt, dass immer mehr SUVs in den Städten für Unfälle, Platzprobleme und schlechte Luft sorgen". SUVs seien "dabei aber nur ein besonders absurdes Symbol für die Folgen einer autozentrierten Verkehrspolitik", so ADFC-Sprecher Dirk Lau.
"Viele Menschen kaufen sich zudem absurderweise solche SUVs, weil sie glauben, sich besser vor den Gefahren im Straßenverkehr schützen zu müssen – die wiederum erst durch immer größere und breitere Autos ausgelöst oder verschärft werden", so Lau. "Wer die Stadt lebenswert für die Menschen machen will, muss attraktive Alternativen zum privaten Auto schaffen, indem er dem Umweltverbund von Fuß-, Rad- und öffentlichem Nahverkehr absoluten Vorrang gibt."