Hamburg. Immer weniger Begräbnisse. Experten schlagen vor, 100 Hektar freie Parkfläche künftig als Naturparadies oder für Spielplätze zu nutzen.
Es geht um nicht weniger als den Erhalt des Friedhofs Ohlsdorf. Damit der größte Parkfriedhof der Welt auch im Jahr 2050 noch ein Ort des Gedenkens, eine Oase der Ruhe und ein Freiraum der Natur inmitten der Großstadt sein kann, trafen sich jetzt Stadtentwicklungsexperten zu einem ersten Werkstattgespräch in Ohlsdorf.
Der Anlass: Seit 20 Jahren verringern sich sowohl die Sterbefälle (minus 22 Prozent) als auch der Anteil der Sargbeisetzungen (von 40 auf nur noch 25 Prozent) in Ohlsdorf. Gab es 1995 noch 7300 Beisetzungen, waren es 2014 nur noch 4200 Begräbnisse. Die Folge sind riesige, ungenutzte Flächen in einer Größe von 100 Hektar mitten in der Stadt, die zukünftig anders genutzt werden müssen.
Welchen Stellenwert soll der Parkfriedhof als Gedächtnis der Stadt und Spiegel der Geschichte künftig haben? Welche Perspektiven gibt es für frei werdende Flächen? Wie lassen sich neue Nutzungen sensibel einfügen? Und: Wie lassen sich die rund 250 Arbeitsplätze langfristig sichern?
„Auf vielen Tagungen ist seit Jahren die Forderung zu hören, das Friedhofswesen müsse sich verändern, und die Friedhöfe sollen sich öffnen“, sagt Rainer Wirz, Bereichsleiter Friedhöfe in Ohlsdorf. Dieser Forderung sei man nun nachgekommen. Wirz: „Diskutiert wurde zum Beispiel über Areale für Vogelarten, die mit bestimmten Gehölzen und Pflanzen gelockt werden und dann die Gäste mit ihrem Gesang erfreuen.“
Es geht kurz gesagt um AAD, Animal-Aided Design. Dabei handelt es sich um ein neues Instrument moderner Stadtentwicklung. Sie soll zunehmend die Rolle der Natur und ihre Leistungen, die sie für den Menschen erbringt, in den Fokus rücken.
In Ohlsdorf leben auch seltene Tiere wie Eisvogel, Baumfalke und Grünspecht
„Die Kernidee von AAD ist es, das Vorkommen von Tieren als Teil der Gestaltung eines Freiraums integrativ zu planen“, sagt Thomas Hauck, der an der Uni Kassel Freiraumplanung lehrt. Das ist ein radikal neuer Ansatz der Stadtplanung, die das Tiervorkommen bisher üblicherweise dem Zufall überlässt. „Mithilfe von AAD setzt sich der Planer mit den Ansprüchen einer Tierart auseinander und stellt sicher, dass die beabsichtigten Arten tatsächlich vorkommen können.“
Der Friedhof verfüge über eine große Zahl seltener Tierarten, wie etwa Uhu, Eisvogel, Baumfalke oder Grünspecht. „Es geht um das Management dieser Arten und deren Entwicklung bei Nutzungsänderungen“, sagt Hauck. Eine Möglichkeit dabei sei die Extensivierung und Verwilderung. „Wälder oder Wiesenflächen, die nur ein- bis zweimal jährlich gemäht werden. Viele Arten werden von einer Pflegeextensivierung profitieren. So würde zum Beispiel die Uhu-Population zunehmen.“
Es ginge um eine „grüne Infrastruktur“ – zum Wohle der Menschen. Das könne der Gesang der Nachtigall sein. Oder urbane Freiflächen, die für die Menschen, in Zeiten des Klimawandels, dringend benötigte sogenannte Ökosystemdienstleistungen bereitstellen. „Einer der wichtigsten Beiträge des Parkfriedhofs der Zukunft wird es, Garant einer grünen Infrastruktur zu sein“, sagt Hauck. Zuständig zu sein für Frischluftkorridore und die Kühlung des Stadtklimas. Für die Bindung von Kohlenstoff sowie die Versickerung und Reinigung von Regenwasser.
Leistungen, die man bisher als selbstverständlich erachtete, weil sie kostenlos zur Verfügung stünden. Wie teuer es sei, Brauch- oder Trinkwasser aus Abwasser zu gewinnen, könne man in Israel und Singapur beobachten. Hauck: „Friedhöfe sollten Räume der Biodiversität werden. Orte, an denen man Natur erleben oder auch wilden Tieren begegnen kann.“
Eine weitere Möglichkeit sei die Intensivierung der Parknutzung. „Ein Teil der Flächen könnte für Kinderspielplätze genutzt werden.“ Dafür gebe es Beispiele auf anderen Friedhöfen, wo in gewissem Rahmen Flächen neuerdings auch für Sport, Cafés oder Picknickflächen genutzt werden. „Außerdem könnten Flächen für das Urban Gardening, also die gärtnerische Nutzung städtischer Flächen wie am Jerusalem Friedhof in Berlin bereitgestellt werden.“ Dort gestalten Künstler und Gärtner gemeinsam mit jungen Flüchtlingen und Menschen aus der Nachbarschaft eine neue Gartenanlage. Sicher ist: Das Bild des Friedhofs wird sich verändern. „Westliche Gesellschaften verfügen über viele positive Naturbilder wie zum Beispiel Arkadien. Aber auch über negative wie Gestrüpp oder Überwucherung“, sagt Hauck. „Wichtig ist es, bei einer Extensivierung der Pflege, die Verbuschung so zu steuern, dass positive Bilder entstehen: ein lichter Baumhain mit blühender Krautschicht – statt undurchdringliche Brombeerbüsche.“
Hauck glaubt, dass sich Bestattungswünsche ändern und dass „die Bestattung in schöner Natur“ diesen Bedürfnissen entgegenkommt. Es gehe um Diversifizierung der Angebote. „Belange des Denkmalschutzes wie wertvolle Grabmale und Kapellen lassen sich mit einer Extensivierung und Nutzungsänderung vereinbaren. Man radiert ja den Bestand nicht aus, sondern verändert die Nutzung.“
Was bedeutet das für die Stadtentwicklung? „Friedhöfe können einen Beitrag zur Grünstruktur der Städte leisten, sie werden Teil des Freiflächenangebots“, sagt Hauck. „Friedhöfe werden vielfältiger. Es wird intensiv genutzte Bereiche geben mit verschiedenen Formen der Bestattung und extensiv genutzte naturnahe Bereiche.“
Wolfgang Purwin, Geschäftsführer der Hamburger Friedhöfe, spricht von einer Herausforderung, allen Ansprüchen gerecht zu werden. „Wir sind immer wieder über die Komplexität des Ohlsdorfer Friedhofs erstaunt, der sehr viele Besuchergruppen anlockt. Klar ist, dass Trauernde vor Lärm und anderen Störungen geschützt werden. Aber es ergeben sich auch viele Freiräume wie das angeleitete Gärtnern auf Grabstätten.“ Viele wollten, dass alles so bleibt. Purwin: „Wer aber den Vorträgen zugehört hat, weiß, dass dies in der Vergangenheit niemals so war, sonst wäre der Friedhof heute noch Ackerland.“ Der Friedhof habe nur dann eine Zukunft, wenn er sich den veränderten Anforderungen stelle. „Sicher ist“, so Purwin, „dass wir den Friedhof in seinen heutigen Grenzen weiterführen wollen. Und das für alle wirtschaftlich.“