Neustadt. Der Radler ist wegen Körperverletzung angeklagt. Er hatte eine 74-Jährige angefahren, die danach tagelang auf der Intensivstation lag.

Die Kopfschmerzen peinigen sie bis heute, jeden Tag. Und manchmal spürt die Frau „so Stiche“. Auch jetzt noch, rund neun Monate nach einem Unfall, leidet die 74-Jährige an den schweren Folgen des Zusammenpralls. Dabei war die Rentnerin an einem Ort der Stille und der inneren Einkehr unterwegs, am Ohlsdorfer Friedhof, wo sie gerade gemeinsam mit ihrem Mann das Grab ihrer Eltern besucht hatte. Auf dem Weg nach Hause setzt ihre Erinnerung aus. „Auf einmal lag ich auf der Straße“, weiß Julia I. (alle Namen geändert) nur noch. Beim Überqueren einer Fahrbahn war die Seniorin von einem Radfahrer erfasst worden. Beim Fallen schlug sie so heftig mit dem Kopf auf, dass sie schwerste Verletzungen erlitt.

Wie viel Schuld trifft den Radfahrer an dem Unfall? Wegen fahrlässiger Körperverletzung vor dem Amtsgericht angeklagt, betont Martin R., dass er das Unglück „sehr bedauerlich“ findet. „Und dass meine Versicherung sich weigert, die Kosten zu übernehmen, halte ich für kastastrophal“, ergänzt der Lehrer, die Stimme ganz Unverständnis und Empörung. Obwohl ihm der Zusammenprall „unglaublich leid“ tue, „sehe ich mich nicht als den allein Schuldigen“.

Er wisse um das Verbot, auf dem Gelände von Friedhöfen Fahrradsport zu betreiben, versichert der 48-Jährige. Er sei aber lediglich mit Tempo 25 unterwegs gewesen, wie sein Fahrradcomputer beweist, eine für ihn als begeisterten Rennradfahrer also „eher gemächliche Geschwindigkeit. Für mich ist die Fahrt durch den Friedhof einfach der schönste und kürzeste Weg“, um beispielsweise zu seinem Fußballverein zu kommen, verteidigt sich der durchtrainierte Mann mit der hohen Stirn.

Der Radfahrer sagt, er habe dem Paar nicht mehr ausweichen können

Das ältere Ehepaar habe er am Straßenrand zwar bemerkt, doch nicht damit gerechnet, dass es die Fahrbahn würde überqueren wollen. Wegen eines hinter ihm hupenden Autos habe er einmal kurz den Blick zurück über die Schulter gerichtet. „Als ich wieder nach vorn sah, waren die Leute nur noch etwa zwei Meter entfernt. Ich konnte nicht mehr ausweichen. Ich habe selber eine Pirouette gedreht und bin mit dem Kopf aufgeschlagen.“ Weil er einen Helm trug, hatte er am Kopf keine Verletzungen, lediglich Kratzer und Abschürfungen an Armen und Beinen.

Viel schlimmer hat es dagegen Julia I. erwischt. 18 Tage lang musste sie in einer Klinik behandelt werden, die Hälfte der Zeit verbrachte die Seniorin auf der Intensivstation, musste wegen einer Hirnblutung am Schädel operiert werden und behielt eine etwa 13 Zentimeter lange Narbe zurück. „Wir wollten über die Straße, haben nach links und rechts geguckt“, schildert die grauhaarige Dame die Momente vor dem Unfall, der ihr Leben aus den gewohnten Bahnen riss. „Auf einmal lag der Radfahrer auf mir. Er sagte noch: ‘Ich habe mich doch nur ganz kurz umgedreht.’“ An die nächsten Minuten erinnert sie sich nicht mehr: „Danach fehlt mir was.“

Ihr Mann meint, der Radfahrer habe sich noch zu rechtfertigen versucht: „Ich habe Sie gesehen, aber ich dachte, sie bleiben stehen“, habe der Angeklagte gesagt, erzählt der 82-Jährige als Zeuge. Der Mann habe jedenfalls keine Alltagskleidung, sondern einen Sportdress fürs Rennradfahrer getragen.

Nach Ansicht der Anwältin war der Radfahrer viel zu schnell unterwegs

Unter anderem daraus ergibt sich nach Überzeugung der Anwältin der verletzten Rentnerin, dass der Angeklagte sein Rad nicht nur als Fortbewegungsmittel benutzt, sondern doch Sport getrieben habe. „Und das ist auf Friedhöfen verboten.“ Überhaupt dürfe dieses Gelände nicht einfach mit Fahrzeugen durchquert werden auf dem Weg zu auswärtigen Zielen. „Der Friedhof ist nicht dem öffentlichen Verkehr gewidmet“, betont die Anwältin. Man dürfe dort nur dann fahren, wenn man auf dem Friedhof etwas zu erledigen habe. „Und das Opfer des Unfalls leidet täglich an den Folgen.“

Es sei „tatsächlich eine Verkettung unglücklicher Umstände, die zu dem schrecklichen Unfall geführt haben“, fasst der Amtsrichter zusammen. Und er sehe auch, dass Martin R. das Unglück „ernsthaft bedauert“. Allerdings habe der 48-Jährige „fahrlässig gehandelt“. Deshalb verurteilt er den Lehrer zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu 80 Euro. Die Straße auf dem Gelände sei eben nicht freigegeben für den öffentlichen Verkehr.

„Und Sie müssen Ihre Geschwindigkeit den Gegebenheiten anpassen“, redet der Richter dem Angeklagten ins Gewissen. „Sie haben die Passanten gesehen und mussten damit rechnen, dass sie auf die Straße treten.“ Auch wenn für Autos dort eine Höchstgeschwindigkeit von Tempo 30 gelte, müssten Radfahrer noch vorsichtiger und zurückhaltender sein, mahnt er. „Sie sind fast geräuschlos und damit viel schwerer für Fußgänger zu bemerken.“