Hamburg. Es ist Festivalzeit. Zur Eröffnung gab es Reden im „Avant-Garten“, Tanztheater auf zwei Ebenen und wilde syrische Hochzeitsbeats.

Einen Avant-Garten gibt es jetzt auf dem Kampnagelgelände. Einen mit pfotenweichem Rindenmulch ausgelegten kleinen Park, in dem man sitzen, trinken, essen und umherstöbern kann. Denn seit am Mittwochabend das Internationale Sommerfestival eröffnet wurde, stehen dort, wo früher ein hässliches Betonareal für Parkplätze reserviert war, Holzpavillons, die bedeutenden Bauwerken nachempfunden sind, nun aber, mit Kunst gefüllt, als begehbare Skulpturen re-interpretiert werden. Hier lässt sich der Sommer-Teil des Festivals wirklich angenehm begehen.

Aus der „Walt Disney Concert Hall“ in Los Angeles wird so die Migration Hall, die Flüchtlinge willkommen heißt und ihre Stimmen aus einem Lautsprecherturm wiedergibt. Aus dem nachempfundenen Dubaier Wolkenkratzer Burj Khalifa ragen im Holzmodell die nackten Streben in den Himmel. Und wenn es im Pointview, das alternativ zum Viewpoint in der Hafencity zum Perspektivwechsel einlädt, kräftig aus der Nebelmaschine raucht, erklärt der Konstrukteur lachend, es sei eben „eine Installation, da geht alles“.

Stimmt. Die „kleine Expo“, die Festivalchef András Siebold hier neben so vielen anderen Projekten zum Internationalen Sommerfestival entstehen lässt, ist Popkultur, also „ein Spiel mit dem Jetzt“, wie er erklärt. Was Senatsdirektorin Marie-Luise Tolle in ihrer Eröffnungsrede sagt, klingt da verwirrender: „Kunst ist keine einfach zu applizierende Crème.“ Patsch. Der Vergleich passt ungefähr so zusammen wie ein weißes Hemd und Tomatensoße.

Der syrische Musiker Omar Souleyman brachte die Massen zum Tanzen
Der syrische Musiker Omar Souleyman brachte die Massen zum Tanzen © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez

Neun Uraufführungen will Siebold im Lauf der kommenden drei Wochen präsentieren, Theater, Tanz, Musik, Film, Performance, Kunst und Theorie verbinden und einem „möglichst breiten Publikum eine Entdeckungsreise durch die Gegenwart“ anbieten. Selbst abseits des Kampnagelgeländes finden Veranstaltungen statt.

In der besetzten Roten Flora etwa wird Christoph Faulhaber am 15. August „Das Phantom“ aufführen. Im Kunstverein wird ein „Klangdom-Konzert“ stattfinden (22.8.). Und die „Geheimagentur“ bespielt in Wilhelmsburg ein neues Kreuzfahrtterminal. Sommerkonzert, Bauchrednertreffen, Knutschparty und Orchesterkaraoke sind nur ein paar Punkte im bunten Programmspektakel.

Zur Eröffnung ging es zunächst stiller zu. Die Choreografin Lucinda Childs, ebenso bekannt für ihren rigiden Minimalismus wie der beteiligte Komponist John Adams, sowie Architekt Frank O. Gehry waren 1983 für die Produktion „Available Light“ zusammengekommen. Damals erschien diese Tanztheater-Inszenierung ungeheuer avantgardistisch und spaltete die Kritiker in zwei Lager.

Die einen nannten es „eine Arbeit von strahlend formaler Schönheit“, die anderen befanden, „wenn dies das einzige Licht ist, das es gibt, ziehe ich die Dunkelheit vor“. Heute hat Lucinda Childs, 75, die in der Uraufführung selbst mittanzte, die Choreografie rekonstruiert, mit deutlich sportlicher aussehenden Tänzern als damals. Die Produktion tourt nun durch die Welt, Kampnagel ist die erste Station in Europa. Das Publikum in der ausverkauften K6-Halle zeigte sich begeistert.

Childs lässt in „Available Light“ die zehn Tänzer und Tänzerinnen (am Ende kommt noch ein elfter dazu) mit mathematischer Genauigkeit Bewegungen wiederholen und variieren. Sparsam, spärlich bis hin zur Kleinlichkeit und gerade deshalb umso eindringlicher wirkend. Gehry hat eine doppelstöckige Bühne mit fünf Stahlrohrkäfigen am Bühnenende geschaffen. Und Adams’ Komposition, Minimal-Musik für Blechbläser und Synthesizer mit deutlichem Einfluss von Sibelius und Strawinsky, erschafft eine strukturierte Traumwelt. Ein Widerspruch in sich? Gewiss nicht an diesem Abend.

Mitglieder der Lucinda Childs Dance Company in der Neuinszenierung der Produktion
Mitglieder der Lucinda Childs Dance Company in der Neuinszenierung der Produktion "Available Light"in der Halle K6 © dpa | Markus Scholz

Rot, schwarz und weiß sind die Tänzerinnen und drei Tänzer gekleidet, die sich wie Puppen von Oskar Schlemmer in diagonalen Mustern bewegen. Vor und zurück, parallel, diagonal, neben- und hintereinander. Auf der schmaleren, oberen Bühne verdoppeln zwei einzelne Tänzer diese Bewegungen. So entsteht aus dem Tanz nicht nur ein vertikales sondern auch ein horizontales geometrisches Gebilde. Technischer Tanz-Minimalismus, der für die Tänzer nicht nur Körperarbeit bedeutet, sondern auch Kopfarbeit.

Eine berauschende Kopfgeburt ist dieser nur eine Dreiviertelstunde dauernde Abend. Die Kunst entsteht einzig aus dem perfekten Zusammenspiel von Raum, Licht, Bewegung und Klang, von Wiederholung, Verschiebung und Variation. Im besten Sinne wirkt das meditativ, im schlimmsten sinnlos. Im zweiten Teil des Abends denkt man bei der Betrachtung der Tanzenden dann auch schon mal an Synchronschwimmer. Ist vielleicht nicht mehr avantgardistisch dieser Abend, so wie vor 32 Jahren, die ewig wiederholten Tanzschritte sind endlich. Aber schön anzuschauen, im meditativen wie im sinnlosen, war’s allemal.

Weniger kontemplativ ging es dann beim Spätkonzert zu: Optisch Scheich mit Sonnenbrille, akustisch eher Scooter auf Arabisch, brachte der syrische Hochzeitssänger Omar Souleyman die Massen zum Tanzen. Die „größte Eventbude des Sommers“, wie Siebold Kampnagel zur Festivalzeit ironisch nennt, machte ihrem Namen alle Ehre.