Winterhude. Das Viertel war als Projekt des sozialen Wohnungsbaus südlich des Stadtparks gedacht - doch heute leben viele Gutverdiener in den Rotklinkerhäusern.
„Das Haus macht so einen Eindruck, als würden nachts Heinzelmännchen darin ein und aus gehen. So blank gebohnert ist alles, total brav sieht es aus. Und der Tante, die mir vorhin im Treppenhaus auflauerte, würde ich zutrauen, dass sie den Heinzelmännchen nachspioniert und heimlich Erbsen auf die Treppen streut. So komme ich unter die Spießer.“
Es ist ein harsches Urteil, das die junge Heldin in dem Kriminalroman „Kommt ein Mann die Treppe rauf“ über ihre Nachbarn in der Jarrestadt fällt. Regula Venske, die Autorin, lächelt, als sie darauf angesprochen wird. „1978 hatte ich die Möglichkeit, als Nachmieterin in eine Wohnung in die Großheidestraße zu ziehen“, erinnert sie sich. „Erst später stellte ich fest, dass die Jarrestadt ein spießiges Viertel ist. Man ahnte, dass immer jemand hinter der Küchengardine stand.“
Mehr als 30 Jahre ist es her, dass Regula Venske in dem südlich des Stadtparks gelegenen Winterhuder Viertel lebte. „Die Kampnagel-Maschinenfabrik existierte nicht mehr, aber das Kulturzentrum gab es auch noch nicht“, erinnert sich die Schriftstellerin, die zuvor im eher linken Ottensen gewohnt hatte. „In der Jarrestadt herrschte irgendwie immer eine Stimmung wie am Buß- und Bettag.“
Wer heute durch das Viertel wandert, in den dunklen Monaten zumal, fühlt sich an Venskesche Zeilen erinnert, schrieb sie doch auch: „Diese ganze Jarrestadt sieht so aus, als könnte hier überhaupt nie eine andere Jahreszeit herrschen als Herbst. Rote Backsteinbauten und weiße Fensterrahmen, aber trotzdem alles grau in grau.“
Ja, die Jarrestadt, in der rund 10.000 Menschen leben, wirkt auf den flüchtigen Besucher in der Tat wenig einladend. Die engen Straßen sind mit Autos zugeparkt, und in Unterführungen streiten Fahrräder und Motorroller um die Abstellflächen. Aber wer vom Osterbekkanal kommend das Viertel erobert und sich ein wenig mit den stadtplanerischen Absichten beschäftigt, der erkennt das verborgene Juwel.
Am besten, man beginnt an der Osterbekkanalbrücke und wandert einmal quer durch das Quartier. Die Strecke führt den Spaziergänger, nachdem er die Jarrestraße überquert hat, in einem leicht geschwungenen Bogen die Hölderlinsallee entlang. Fünf Stockwerke ragen die Mietshäuser hier wie Trutzburgen in den Himmel. Sie bestehen aus dunklen, weil zweimal gebrannten Klinkersteinen.
Immer gleiche Fenster reihen sich, so weit das Auge reicht. Eingangstüren in ebensolcher Regelmäßigkeit unterbrechen diese Uniformität – und verstärken damit zugleich ihre Wirkung. Lediglich ein paar hervorstehende Ziegel dienen als Zierde. Obwohl mitten in der Stadt, liegt selbst am helllichten Tag eine alles Lebendige erstickende Ruhe über dem Ensemble. Streit, Versöhnung, Kindergeschrei – nichts, so scheint es, soll nach draußen dringen.
Anders an der Stammannstraße – dort, wo die rostigen Papier- und Flaschencontainer stehen. Eine junge Mutter wirft Weinflaschen hinein. Sie schlagen im Inneren der Tonne auf den Boden auf, zerbrechen klirrend und übertönen für einen Moment das Geschrei ihres Kindes im Kinderwagen. Wie überall auf der Welt ist der Anblick der Mülltonnen traurig.
Ein Fußweg führt durch den quadratisch angelegten Schneiderblock mit seiner gut zwei Fußballfelder großen Grünanlage. Mit weißen Platten verkleidete Balkons erinnern an sozialistische Großwohnsiedlungen. Die Anonymität ist für den Spaziergänger körperlich zu spüren. Einige Schritte verläuft der Weg durch eine Unterführung, dann geht es weiter über den Hanssensweg und den Semperplatz. Wenig später steht man am Goldbekufer.
Es muss nur die Zugbrücke hochgezogen werden, und die Burg ist geschlossen
„Hier braucht man nur noch ‘ne Zugbrücke hochziehen und dann ist die Burg geschlossen“, heißt es in der Broschüre „Zwischen Neubau und Zerstörung“, die das Jarrestadt-Archiv 2003 herausgegeben hat. Darin kommen Einwohner zu Wort, die teilweise schon in den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts in dem Viertel lebten.
Das also ist die legendäre Jarre-stadt – „das bedeutendste Beispiel für das neue Bauen in Hamburg und die neue Arbeiter-Wohnkultur der 20erJahre“, wie der Architekturprofessor Dirk Schubert in seinem Buch „Hamburger Wohnquartiere – Ein Stadtführer durch 65 Siedlungen“ schreibt? Kopf und Bauch geraten in Streit. Also gilt es erst einmal, Fakten aufzuzählen.
Das gut zehn Hektar große Viertel liegt keine 15 Minuten Fußweg vom Stadtpark entfernt. Wiesendamm, Glindweg, Osterbek- und Goldbekkanal bilden seine Grenzen. Mit der U-Bahn fährt man am besten bis zur Haltestelle Borgweg oder Saarlandstraße. Von dort aus überquert man den Wiesendamm. Ihren Namen verdankt die Jarrestadt Nicolaus Jarre, einem Hamburger Bürgermeister aus dem 17. Jahrhundert.
Die Entstehung des Viertels ist eng mit der Sozialgeschichte Hamburgs verbunden. Als die Hansestadt Mitte des 19. Jahrhunderts wirtschaftlich aufblühte und die Zahl ihrer Einwohner sprunghaft wuchs, rückten die elenden Wohnbedingungen vieler ihrer Einwohner in den Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit. Um 1800 lebten rund 130.000 Menschen in Hamburg. 100 Jahre später waren es schon 700.000.
Vor allem die Wohnbedingungen armer Menschen – das Gängeviertel steht beispielhaft dafür – spotteten jeder Beschreibung. Dass neun Menschen auf 14 Quadratmetern lebten, war seinerzeit keine Seltenheit. Erste Überlegungen der Wohnungsbaureformer führten in die Irre. Zwar wurden ab 1870 in den sogenannten Stadterweiterungsquartieren Arbeiterwohnquartiere errichtet. Doch die Gebäude mit ihren Hinterhäusern waren kaum oder nur schlecht zu belüften.
„Wer die Stadt als Lebewesen empfand, der musste bald erkennen, dass dies Wesen im tiefsten Kern krank war und dass man dieser Krankheit nicht durch ästhetisches Retuschieren, sondern nur durch organische Eingriffe Herr werden konnte“, schrieb Hamburgs legendärer Oberbaudirektor Fritz Schumacher in seinem Werk „Das Werden einer Wohnstadt“. Er sollte zum Begründer der Jarrestadt werden.
Schumacher versuchte dem Problem durch den Neubau von Wohnvierteln zu begegnen, die sich „wie ein Gürtel um Hamburgs alten Leib“ legen sollten. Das bis dahin unbebaute Gelände der heutigen Jarrestadt eignete sich dafür ideal. Der 1914 entstandene Stadtpark konnte der Naherholung für jene dienen, die in den südlich gelegenen Fabriken arbeiteten und in der Jarrestadt wohnen sollten.
Anfang 1926 begannen die Planungen, die bis heute Gültigkeit haben. Vorgesehen waren zehn Wohnblöcke mit 1800 Wohnungen. Die Hamburger Beleihungskasse schrieb einen Ideenwettbewerb aus, „an dem nur Hamburger Architekten teilnehmen durften“, wie Dirk Schubert berichtet.
Das in Sachen Architektur ungeübte Auge erkennt nur bei genauem Hinschauen die unterschiedliche Gestaltung einzelner Gebäude. Mal wird der Eingang eines Wohnhauses durch etwas herausgeschobene Backsteine betont. Mal ist es ein Geschoss mehr am Ende eines Gebäudes, das hervorsticht.
Vorbildlich waren die „inneren Werte“. Jede Wohnung besaß ein eigenes Bad, fließend warmes Wasser und Zentralheizung. Fast immer gab es einen Balkon, der in den ruhigen Hinterhof hinausführte. „Es war nach damaligen Verhältnissen schon etwas Besonderes, Zentralheizung und aus allen Wasserleitungen kaltes und heißes Wasser zu haben“, sagt Ulla Schepanski. Ihre Eltern waren 1930 hierher gezogen. „Es gab ein Schlafzimmer, eine gute Stube, ein Bad mit Wanne und eine Wohnküche, in der sich alles abspielte.“
Allerdings zogen nach der Fertigstellung in den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht jene Mieter ein, für die der soziale Wohnungsbau eigentlich gedacht war. Zwischen 47 und 80 Mark monatliche Miete kostete eine Wohnung, die in der Regel 50 bis 60 Quadratmeter groß war. Und so war die Einwohnerschaft von Angestellten und Facharbeitern geprägt.
Margot Brügmann ist fast 80 Jahre alt, aber noch sehr forsch. „Für ein Gespräch in ein Café gehen? Nein, das kommt nicht in Frage!“ Warum nicht in ihrer Küche reden? Sie füllt kochendes Wasser in eine Kaffeekanne. „Als meine Mutter 1935 nach meiner Geburt aus dem Krankenhaus kam, bezog sie mit meinem Vater in der Jarrestadt eine Wohnung.“
Der Vater arbeitete in leitender Stellung in einem Hamburger Verlag. „Mein Ururgroßvater war Johann Joseph Görres“, berichtet sie. Jener Görres, der im Januar 1814 in Koblenz den „Rheinischen Merkur“ gegründet hatte. Der mit den Schriftstellern Heinrich Heine, Clemens Brentano und Achim von Arnim befreundet war und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als einer der einflussreichsten politischen Publizisten in deutschen Landen galt.
Lebhaft erinnert die Pensionärin sich an die Hoffeste in ihrer Kindheit. „Damals tanzten junge Mädchen in weißen Kleidern auf dem Dach der Waschküche.“ Und immer wenn eines der Mädels sich um die eigene Achse drehte, flogen die Rockschöße in die Höhe. Wie Engel hätten sie ausgesehen, schwärmt Margot Brügmann.
Die Höfe sind etwas Besonderes in diesem Wohnviertel. „Neben Ruhezonen sollten sie sowohl Platz für Wäschetrocknen und Teppichklopfen als auch Spielmöglichkeiten für Kleinkinder geben“, schreiben Elke Groenewold und Ulrike Sparr, die Autorinnen der Broschüre des Jarrestadt-Archivs. Noch heute sind die meisten Karrees Orte der Ruhe mit gepflegten Rasenflächen und Spielplätzen für Kinder.
Auch Margot Brügmann hat oft in ihrem Hof gespielt, obwohl ihre Kindheit und ihre Jugend vom Zweiten Weltkrieg und den Jahren danach geprägt waren. „Man konnte wegen der Bombenangriffe in der Nacht kaum durchschlafen“, erzählt sie.
Im Gedächtnis hängen blieb ihr der Einfallsreichtum, mit dem die Menschen nach dem Krieg versuchten, ihre Not zu lindern. „Es war normal, auf seinem Balkon Gänse, Hühner oder Kaninchen zu halten.“ Normal waren auch die drei mal vier Meter großen Beete in den Innenhöfen. Wer im Parterre wohnte, hatte Glück. Er konnte das Fleckchen Erde umpflügen und mit Wurzeln, Tomaten, Kohlrabi oder Kartoffeln bepflanzen.
Das Viertel hat sich in den vergangenen 20 Jahren verändert. Auf den Grundstücken am Osterbekkanal stehen moderne Gebäude mit Wohnungen, für die man locker doppelt so viel an Miete bezahlen muss wie in den Genossenschaftshäusern der Jarrestadt. Ulrike Sparr sorgt sich. In den kommenden Jahren läuft für viele Wohnungen die Sozialbindung aus. „Dann könnten die Vermieter mehr fordern.“
Diese Sorge haben Angela und Ehemann Hans-Peter Froschauer nicht. Seit 1975 leben sie in der Großheidestraße; drei Kinder haben sie groß gezogen. Über ihren Vermieter, die Genossenschaft der Schiffszimmerer, berichten sie nur Gutes. „Die Miete ist günstig, sie liegt zwischen sechs und sieben Euro pro Quadratmeter“, verrät Hans-Peter Froschauer.
Früher gab es mehr als 100 kleinere Geschäfte in der Jarrestadt
Trotzdem spüren auch die Froschauers die Veränderungen. „Früher gab es hier einmal mehr als 100 kleinere Geschäfte“, erzählt Angela Froschauer. Da waren der „Milchmann Heinz“, die „Drogerie Bulach“, „Feinkost Wesselhöft“ und „Textil-Peters“. „Die sind alle weg!“ Sie hatten keine Chance gegen die Supermärkte, die in angrenzenden Vierteln wie Spargel aus dem Boden schossen.
Es habe immer Zeiten gegeben, in denen viele Kinder im Viertel lebten, und Zeiten, in denen es weniger waren, erzählt Hans-Peter Froschauer. Früher aber seien Familien „ein Leben lang“ in der Jarrestadt wohnen geblieben. „Als wir einzogen, waren wir die Jüngsten im Haus; jetzt sind wir die Ältesten.“ Heute halten es junge Familien nicht mehr so lange aus. „Sie ziehen als junge Paare ein und suchen sich, spätestens wenn das zweite Kind da ist, eine größere Wohnung.“
Der Kontrast zwischen Jarrestadt und Jarrestraße könnte kaum größer sein. Tritt man durch die Unterführung des Jean-Paul-Weges aus der Stille des Wohnviertels hinaus, ändert sich die Szenerie schlagartig. Auf der Jarrestraße jagt ein Auto das andere, auf den Fußwegen wird es zuweilen eng, vor allem zur Mittagszeit, wenn Angestellte aus ihren Büros strömen und in einem der kleinen Lokale zu Mittag essen wollen. Hin und wieder verirrt sich einer dieser Geschäftsleute in das „Café Portugal“ im Hanssensweg.
Die bunten Lissabon-Fotos an den Wänden und die an die Decke gepinnte portugiesische Staatsflagge lassen keinen Zweifel an der Herkunft von Inhaberin Gorete Condaixo aufkommen. In der Vitrine locken die für eine Pasteleria typischen Kuchenvarianten. Es duftet nach Kaffee. Die junge Frau lächelt, während sie die Bestellung entgegennimmt: „Ein Stück Quiche, ein Puddingtörtchen und einen Galão bitte.“ Dass die 45-Jährige seit gut einem Jahr in der Jarrestadt wohnt, hat mit der Liebe und ihrem Vermieter, der Wohnungsgesellschaft Saga GWG, zu tun. Ihr Ehemann und Vater ihrer beiden Kinder lebte schon fünf Jahre in Hamburg. 2013 gab sie ihren Job beim portugiesischen Fernsehen auf und zog auch an die Elbe. Die Ein-Zimmer-Wohnung des Ehemannes reichte nicht, also machte Gorete Condaixo sich auf die Suche, entdeckte eine Dreizimmerwohnung im Hanssensweg und fragte beim Vermieter nach. Dort hieß es, sie könne die Wohnung bekommen, müsse aber auch den Laden mieten. Das sei schon immer so gewesen.
Gorete Condaixo beriet sich mit ihrem Mann und eröffnete zum ersten Mal in ihrem Leben eine Pastelaria. Inzwischen hat sich im Viertel herumgesprochen, dass Gorete Condaixo ihr Geschäft an sieben Tagen in der Woche zwischen sieben und 19 Uhr geöffnet hat. Junge Mütter bestellen sich einen „Coffee to go“, bevor sie ihre Kinder in der gegenüberliegenden Kita abholen.
Ralf Schulz hat die vergangenen 21 Jahre in seiner Schuhmacherei gleich nebenan kommen und gehen sehen. Dem Ladenbesucher schlägt der typische Geruch von Leder und Leim entgegen. Mit Hilfe einer Schraubzwinge presst der 51-Jährige gerade eine neue Gummisohle auf einen Schuhschaft.
Junge, gut verdienende Singles zögen vermehrt in die Gegend, sagt er. Politiker sprechen in so einem Fall gern von „besonders nachgefragten Stadtteilen“, Ralf Schulz von Aufwertung. Das könne man an der Umwandlung normaler in Eigentumswohnungen erkennen. „Hier im Hanssensweg, in der Stammannstraße oder im Glindweg.“
Doch das sind Ausnahmen, denn die Jarrestadt an sich steht längst unter Denkmal- und Milieuschutz. Ein gut gemeinter Versuch, bezahlbaren Wohnraum in Innenstadtnähe zu erhalten. Doch wer hier ein Wohngebäude besitzt – zumeist sind es Genossenschaften –, stößt immer häufiger an Grenzen. Viele Gebäude sind in die Jahre gekommen und müssten von Grund auf saniert werden.
Wie das angesichts der niedrigen Mieten und der gestiegenen Baukosten gehen soll, das treibt so manchen Genossenschafter um. Der Wandel in der Jarrestadt findet daher wohl eher im Inneren der Wohnungen als öffentlich sichtbar durch Neubauten statt. Ralf Schulz würde heute nicht mehr davon sprechen, dass die Jarrestadt ein kleinbürgerliches Viertel sei.
Und so klingt die Beschreibung der Hausgemeinschaft in dem Roman von Regula Venske aktueller, als die Autorin es sich vor 20 Jahren vorgestellt haben dürfte. „Eben ging mir was Irres durch den Kopf. Die Türken (2. Stock links) sind die einzigen ordnungsgemäß verheirateten Leute hier im Haus! Alles andere: der reine Abschaum! 1 Single (der Seemann), 1 ledige Mutter (ich), Schwule (Petermanns) und vor allem jede Menge Bratkartoffelverhältnisse.“