Am Walddörfer Gymnasium steht jeden Tag für alle Schüler eine Stunde selbstorganisiertes Lernen auf dem Stundenplan. Wo, mit wem und bei welchem Lehrer sie dann lernen, können die Schüler sich aussuchen.

Volksdorf. Es ist kurz nach halb zehn am Vormittag. Im Unterrichtsraum von Physiklehrer Frank Mehnert probieren Maurits und Leander, die in die 9c am Walddörfer Gymnasium in Volksdorf gehen, ob sie mit Wechselstrom eine Gitarrensaite zum Schwingen bringen können. Physiklehrer Mehnert passt auf, dass das Experiment nach Plan läuft. Klingt soweit wie eine ganz normale Physikstunde. Doch nicht alle Schüler, die im Raum sind, beschäftigen sich mit Wechselstrom.

Ein paar Mädchen arbeiten an einem Gruppentisch an Französisch-Aufgaben, eine Schülerin schreibt still an einem längeren Deutsch-Aufsatz, andere sitzen vor ihren Erdkunde-Unterlagen. Herrn Mehnert kennen einige der Schüler gar nicht – und er sie andersherum auch nicht. Und wenn sich die Schüler heute mit der Analyse eines französischen Gedichts beschäftigen, kann Herr Mehnert ihnen als Physik- und Religionsexperte sicher nicht so gut helfen wie ein Französischlehrer. Doch das ist zwischen halb zehn und halb elf nebensächlich, denn in dieser Zeit kommt es am Walddörfer Gymnasium jeden Tag vor allem auf eins an: auf Eigenverantwortung. In der sogenannten Studienzeit, die an dieser Schule jeden Tag 60 Minuten dauert, sollen die Schüler lernen, sich ihre Zeit selbst einzuteilen und sich Inhalte selbstständig anzueignen. „Jeder soll seinen Stärken und Schwächen entsprechend lernen können, wo er will und mit wem zusammen er will“, sagt Schulleiter Jürgen Solf. Diesen Fokus auf Selbstständigkeit gibt es an vielen Schulen, doch das Walddörfer Gymnasium ist das einzige in Hamburg, an dem seit zweieinhalb Jahren jeden Tag für alle Stufen eine völlig freie Arbeitsphase auf dem Stundenplan steht.

Und so funktioniert das Ganze: Zu Beginn einer Einheit – die dauert meist vier Wochen – bekommen die Schüler in jedem Fach eine Übersicht mit Aufgaben, die sie bis zum Ende der Einheit erledigt haben müssen. Ob sie sich erst mit dem Blues-Zirkel in Musik beschäftigen oder mit der französischen Revolution in Geschichte, bleibt ihnen selbst überlassen. Während der Studienzeit haben sie jeden Tag Gelegenheit, sich in Gruppen zusammenzusetzen und sich die Themen zu erarbeiten. Dabei können sie sich Unterstützung von beliebigen Fachlehrern holen. „Wenn jemand zum Beispiel mit seinem Mathelehrer nicht so gut klar kommt, kann er in der Studienzeit einen anderen Mathelehrer um Rat fragen“, sagt Karoline Wirth-Geib, didaktische Leiterin am Walddörfer Gymnasium. Denn während der Studienzeit haben die Schüler die Wahl zwischen rund 40 Lehrern, die jeweils in ihrem Raum sitzen, die Schüler beaufsichtigen und bei Bedarf unterstützen. Für diejenigen, die zum Lernen Ruhe brauchen, gibt es spezielle Silentium-Räume. „Normalen“ Fachunterricht gibt es natürlich trotzdem noch, allerdings werden die Unterrichtszeiten hier etwas verkürzt, damit die Schüler unterm Strich nicht länger zur Schule gehen müssen als andere. Von jeder 90-minütigen Doppelstunde werden 20 Minuten für das eigenverantwortliche Lernen abgezwackt.

Für Schulleiter Jürgen Solf liegen die Vorteile der Studienzeit auf der Hand: „Die Schüler können in ihrem eigenen Lerntempo lernen, sie können sich für Schwächen mehr Zeit nehmen und je nach Interesse selbst Schwerpunkte in ihrer Arbeit setzen“, sagt er. „Wir haben hier mehr als 1000 Schüler, und jeder ist anders. Der eine braucht mehr Zeit in Mathe, ist aber schneller in Spanisch, beim nächsten ist es andersrum – in der Studienzeit kann jeder so lernen, wie es am besten für ihn ist.“ Vor allem könnten die Schüler mit der täglichen Studienzeit ihre Selbstständigkeit und ihr Zeitmanagement trainieren. Das werde ihnen auch nach der Schulzeit an der Uni oder im Berufsleben zugute kommen, meint Solf.

Ein Blick in mehrere Lernräume zeigt: Einige Schüler sind diszipliniert bei der Sache, andere weniger. Während einige fleißig arbeiten, unterhalten sich andere mit ihren Nachbarn oder hören Musik oder starren untätig auf ihre Zettel. Die Meinungen über den Sinn der Studienzeit gehen bei den Schülern auseinander. „Ehrlich gesagt ist das vertane Zeit für mich“, sagt eine Elftklässlerin. „Ich sitze in der Zeit oft nur rum, unterhalte mich mit anderen und hole dann kurz vor Ablauf der Frist alles auf den letzten Drücker zu Hause nach. Da kann ich konzentrierter arbeiten, vor allem, weil es in den Räumen oft unruhig zugeht.“ Zwei andere Mädchen gestehen, dass sie während der Studienzeit immer lieber die Hausaufgaben für die nächste Stunde machen, anstatt sich mit ihren Studienzeit-Aufgaben zu beschäftigen – „weil das einfach dringender ist“.

Andere sehen das Ganze positiver: „Klar gibt es einige, die erst mal quatschen“, sagt Schulsprecherin Jessica Tolkiehn, 17. „Aber nach einer halben Stunde fangen auch die dann an zu arbeiten.“ Diese Einschätzung teilt auch die didaktische Leiterin Karonline Wirth-Geib. „Auf Dauer ist es für die meisten Schüler nicht sonderlich reizvoll, nichts zu tun und damit auch nicht voranzukommen“, meint sie. „Wenn jemand die Aufgaben nicht macht, fällt es spätestens am Ende der Einheit auf, wenn die Inhalte gesichert werden. Das kann in Form eines Tests, einer Präsentation oder einer Diskussionsrunde sein.“ Damit die Schüler die Zeit zwischen halb zehn und halb elf nicht einfach für eine ausgedehnte Frühstückspause nutzen, gibt es außerdem einen Regelkatalog, der immer wieder überarbeitet und erweitert wird. Darin ist unter anderem festgelegt, dass Schüler sich ihre Anwesenheit durch einen Stempel bestätigen lassen, den der Aufsichtslehrer ihnen in ihren Schulplaner stempelt. Wer mehr als fünf Mal ohne Stempel ist, bekommt einen Vermerk im Zeugnis. Und wenn ein Schüler eine Studienzeitaufgabe einfach nicht bearbeitet, gibt’s eine Sechs.

„Mir hilft es, dass man in der Studienzeit mit anderen aus der Klasse über Themen diskutieren kann. Dadurch wird mir vieles klarer“, sagt Schulsprecher Lennart Kratzberg, 18, der in die zwölfte Klasse geht. Und außerdem sei in der Studienzeit Platz auch für Themenideen jenseits des normalen Unterrichtsalltags. Vor Weihnachten waren beispielsweise einmal Flüchtlinge aus der Lampedusa-Gruppe am Walddörfer Gymnasium zu Besuch und haben dort von ihrem Schicksal erzählt.

„Gerade in der Abiturvorbereitung ist es gut, dass man in der Studienzeit nochmal die Möglichkeit hat, nachzufragen, wenn etwas unklar ist“, sagt Lennart Kratzberg. „Da können sich die Lehrer dann auch mal Zeit für einzelne nehmen und auf individuelle Schwierigkeiten besser eingehen als sonst.“ Das sei besonders in Hinblick auf das Turbo-Abi sinnvoll.

Schulleiter Jürgen Solf ist sich sicher, dass die Studienzeit ein Unterrichtsformat ist, über das in Zukunft noch viel geredet werden wird – auch vor dem Hintergrund der Diskussion um G8 oder G9. „Bei G8 fungiert die tägliche Stunde Studienzeit, in der die Schüler sich ohne Druck mit dem Lernstoff beschäftigen können, als Puffer.“ Schließlich könnten sich die Schüler in den 60 Minuten frei mit Themen beschäftigen, bei denen sie noch Nachholbedarf haben, so Solf. „Freiräume für selbstgesteuertes Lernen sind für die Überprüfung von G8 ein sehr viel weiterführender Ansatz als neue Strukturveränderungen, die für Schüler und Lehrer zu mehr Belastung und nicht zur Entlastung führen werden.“ Und sollte G9 dennoch an Hamburger Gymnasien wieder eingeführt werden, sei die Studienzeit ein geeignetes Instrument, um der Heterogenität der Lernenden gerecht zu werden – denn Solf vermutet, dass dann noch mehr Schüler an die Gymnasien strömen würden.