Hamburg. Viele Geschäftsideen von außerhalb scheitern hier. Wer überleben will, muss verstehen, wie die Menschen im Stadtteil ticken.
Lange wurde über Wilhelmsburg geredet, die Elbinsel sollte der neue In-Stadtteil werden. Viele Kaufleute von außerhalb scheiterten mir ihren Konzepten, einige stimmten bereits einen Abgesang auf Wilhelmsburg an.
Jetzt, mehr als zehn Jahre nach Internationaler Bauausstellung und Internationaler Gartenschau, mit denen der „Sprung über die Elbe“ geschafft werden sollte, lebt die Insel auf. Verantwortlich dafür sind vor allem Geschäftsleuteaus dem Viertel, die jeder Krise trotzen und mit viel Mut die Lücken im Angebot füllen. Das Abendblatt stellt einige von ihnen stellvertretend vor.
Hamburg-Wilhelmsburg: Wie junge Leute die Elbinsel gestalten
Das Viertel ist im Wandel – Gastronomen und Geschäftsleute sind ständig gefordert, sich und ihre Läden weiterzuentwickeln. Mona Michels ist eine davon. Seit fast zehn Jahren betreibt sie das Turtur am Veringkanal.
Früher Ort wilder Techno-Partys ist das Turtur seit nunmehr einem Jahr eine reine Pizzeria und Bar. Der Club Turtur hingegen ist Geschichte. 2022 gab Michels ihr Herzensprojekt auf, im Frühjahr 2023 startete dann der reine Gastrobetrieb mit Blick auf den Kanal.
Turtur: Wilhelmsburger Techno-Club wird zur Pizzeria
Zuvor hatte Michels ihren Laden jedes halbe Jahr umgebaut. Im Winter Party, im Sommer Pizza – so das Konzept. „Das war mir irgendwann einfach zu viel“, sagt Michels. „Jetzt läuft alles etwas strukturierter und klarer.“
Einfacher wurde es durch die Umstellung aber nicht. Die Gastronomin hat zu kämpfen – mit steigenden Personal- und Energiekosten, hohen Preisen für Lebensmittel und der Mehrwertsteuererhöhung. „Das Leben ist für alle teurer geworden“, sagt Michels. „Aber nur, weil Zutaten doppelt so teuer sind, kann ich nicht die Preise verdoppeln.“
Pizzeria in Wilhelmsburg: Turtur liegt direkt am Veringkanal
Der vergangene Sommer sei gut gelaufen, der Winter nicht. Die Lage des Turtur ist dabei Fluch und Segen: toller Ausblick, keine Autos, aber eben auch etwas versteckt. Das Lokal lebt von Laufkundschaft und Ausflüglern, die auf der Terrasse am Kanal die Aussicht genießen. Deshalb freue sie sich auf den Frühling, sagt Michels.
Das Restaurant biete eine saisonale Karte. Dauerbrenner sind die Bruschetta Burrata und die Salate, die Namen tragen wie „Lila Ziege“. Die Pizzen sind teilweise nach Freunden des Hauses und DJs benannt – ein Andenken an die Clubzeit. Immer wieder ist das Turtur auch Schauplatz von Veranstaltungen. Kunsthandwerker- oder Flohmarkt, Tischtennis-Abende, kleine Konzerte oder wie kürzlich zum ersten Mal: ein Kneipenquiz. Da war der Laden so voll wie zu besten Clubzeiten. Die logische Konsequenz: eine Wiederholung.
Wilhelmsburger Unternehmerin setzt auf Upcycling
Weniger wegwerfen, achtsam mit Ressourcen umgehen, und das in Kombination mit schlichtem Design – das ist die Philosophie von Nicole Praglowski. Aus der Idee ist ein Geschäft, ein Label, entstanden: Make it Last.
Praglowski vertreibt nachhaltige, handgemachte Produkte, gefertigt aus Materialien, die bereits anderweitig verwendet wurden. Upcycling heißt das. „Ich möchte den Menschen helfen, Müll zu vermeiden“, sagt die Wilhelmsburger Unternehmerin.
Wilhelmsburgerin produziert wiederverwendbare Kosmetik-Pads
Sie ist eine Einzelkämpferin, näht in ihrer Werkstatt an der Veringstraße alle Produkte selbst. Diese vertreibt sie bei lokalen Händlern und über ihren Onlineshop. Aus Wilhelmsburg in die ganze Welt. Möglich macht es die gute Vernetzung im Viertel. „Das gibt es woanders so nicht“, sagt Praglowski. Im Shop finden sich Portemonnaies, Seifensäckchen, Kinderschuhe und wiederverwendbare Kosmetik-Pads.
Anders als viele herkömmliche Pads müssen diese nicht nach der Benutzung weggeworfen werden, sondern können in die Waschmaschine gegeben und wiederverwendet werden. „Die kamen so gut an, dass ich meine Idee professionalisieren konnte“, sagt die 41-Jährige.
Make it last: Produkte sind nachhaltig und schön anzuschauen
Praglowski kauft für ihre Arbeit meist Restbestände und ausgemusterte Stoffe. „Deswegen habe ich immer nur eine begrenzte Menge an bestimmten Materialien“, sagt die zweifache Mutter.
Die Produktion wird so immer wieder zur Herausforderung. „Ich muss viel herumexperimentieren, aber das macht das Ganze auch interessant.“ Ihr Ziel bei den Produkten: „Sie sollen nachhaltig und zweckmäßig sein, schön aussehen, und es soll Spaß machen, sie zu benutzen.“
Wilhelmsburg: Neues Tattoo-Studio am Vogelhüttendeich
„Kreativ austoben“ tun sich auch die Gründerinnen Ranka Foth und Francis Spoerl. Ihr Schriftzug am Fenster ihres kleinen Ladens am Vogelhüttendeich wirkt unscheinbar: Plant Base Tattoo. Anfang Februar haben sie eröffnet.
Der Name bezieht sich zum einen auf die vielen Pflanzen im Inneren des Studios. „Ich möchte aber, dass hier drinnen ein richtiges Dschungel-Gefühl aufkommt“, sagt Ranka Foth. Die 31-Jährige war lange auf Reisen, hat dabei ihr Handwerk gelernt und in Südostasien zahlreiche Backpacker tätowiert. Mit dem Studio hat sie ihr Hobby endgültig zum Beruf gemacht.
Junge Gründerinnen wollen sich bei Plant Base Tattoo kreativ austoben
Die zweite Bedeutung des Namens bezieht sich auf die Materialien. Denn Plant Base ist ein veganes Tattoo-Studio. „Wir verwenden ausschließlich vegane Farben“, erklärt Francis Spoerl. 2018 entdeckte die 28-Jährige ihre Leidenschaft fürs Tätowieren. „Eine Freundin hat mich an die Hand genommen“, sagt sie. Eine echte, staatlich anerkannte Ausbildung gibt es nicht.
Ein Tattoo bleibt für immer in der Haut, Tätowierer tragen also eine große Verantwortung. Aber auch die Kunden seien nicht frei davon, sagt Spoerl. „Die Nachsorge und Pflege haben viel Einfluss darauf, wie ein Tattoo am Ende aussieht. Ein Tattoo ist immerhin eine offene Wunde.“
Die Dritte im Bunde ist Piercerin Christine Byrne. Sie ist im Studio für das Stechen von Piercings zuständig, hat mehr als 20 Jahre Erfahrung. Aktuell arbeiten die drei vor allem auf Termin, künftig wollen sie ihr Studio aber auch regelmäßig öffnen. Termine vergibt Plant Base Tattoo online über ihre Website.
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La Patina versorgt Wilhelmsburg seit Jahren mit italienischer Pizza
Ein gutes Stückchen weiter an der Veringstraße, Wilhelmsburgs inoffizieller Gastromeile, tummeln sich bei gutem Wetter die Menschen vor den Lokalen. Zwei Burger-Läden, ein portugiesisches und zwei italienische Restaurants finden sich auf wenigen Metern. Letztere tragen beide den Schriftzug La Patina.
Seit acht Jahren versorgen Carsten und Elif Thämlitz mit ihrem Team von La Patina die Wilhelmsburger schon mit italienischer Pizza. Der hauseigene Parmesan-Knoblauch-Dip hat es sogar in die lokalen Edeka-Märkte geschafft. Vor etwa einem Jahr eröffneten sie im Ladengeschäft direkt nebenan den Ableger La Patina Pasta.
Neues Pasta-Restaurant in Wilhelmsburg erfüllt Wünsche der Kundschaft
Dieser ist seit 2023 eine Ergänzung zur Pizzeria: Es gibt Pasta-Gerichte, Focaccia, hausgemachte Kuchen und Desserts. „So was hat gefehlt, die Kunden haben immer wieder nach Pasta-Gerichten gefragt“, sagt Elif Thämlitz.
Elif Thämlitz ist ausgebildete Gastronomin, ihr Mann Carsten gelernter Koch. Wichtig ist beiden, dass in ihren Restaurants alles selbst gemacht wird. Im Keller des neuen Restaurants gibt es eine Produktionsküche, in der Carsten Thämlitz unabhängig vom Tagesgeschäft werkeln kann.
Hamburg-Wilhelmsburg: Gastronomen-Ehepaar setzt auf preiswerte Gerichte
Seit Mitte März gibt es bei ihnen mehr preiswerte Gerichte, sagt Carsten Thämlitz. „Die Menschen hier brauchen günstige Angebote, das Leben ist für alle teurer geworden. Mit italienischer Küche kann man das gut umsetzen.“ Die Karte müsse zum Publikum passen. Eines der Erfolgsrezepte von La Patina.
Auf der neuen Karte finden sich Focaccia-Sandwiches mit Parmesan-Hühnchen oder Burrata sowie neue Pasta-Kreationen. Der zweite Laden werde gut angenommen, sagt der Gastronom. An einem sonnigen Tag reicht eine offene Tür, und schon stehen Kunden im Geschäft, wenn auch nur für ein Eis – und das, obwohl eigentlich Ruhetag ist.