Hamburg. Obwohl sie ihren Säugling getötet hatte, wurde die 32-Jährige aus der U-Haft entlassen – eine Woche später ging sie auf den Mann los.

Erst erstickte sie ihren 23 Tage alten Sohn mit einem Kissen. Kaum aus der Untersuchungshaft entlassen, drei Monate darauf, ging die damals 32-Jährige mit einem Messer auf ihren schlafenden Partner los. Auch das Abendblatt fragte nach der letzten Tat im August 2023, wie so etwas überhaupt passieren konnte: wie eine mutmaßliche Kindsmörderin wieder auf freien Fuß gelangen konnte.

Die erschütternde Antwort: Treibende Kraft hinter ihrer Entlassung war der zuständige Gutachter, der eine offensichtlich fehlerhafte Prognoseentscheidung traf. Für den Experten sollte sein mögliches Versagen nicht folgenlos bleiben. „Die Staatsanwaltschaft wird den Sachverhalt nun auch auf etwaige Gutachterfehler hin prüfen“, sagte Liddy Oechtering, die Sprecherin der Staatsanwaltschaft Hamburg, dem Abendblatt kurz nach dem mutmaßlichen Messerangriff auf den 37 Jahre alten Mann.

33 Jahre alte Angeklagte hat noch ein weiteres kleines Kind

Auch in dem am Dienstag beginnenden Prozess am Landgericht gegen die heute 33-Jährige dürfte die Frage der Haftentlassung eine wichtige Rolle spielen. Ein sogenanntes Sicherungsverfahren mit dem Ziel der Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik hat die Staatsanwaltschaft Hamburg jedoch nicht beantragt: Die Behörde hat die 33-Jährige, die noch ein weiteres fast drei Jahre altes Kind hat, wegen Totschlags, versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung angeklagt. Der Beschuldigten, die sich bis zum vergangenen Jahr strafrechtlich nichts hat zuschulden kommen lassen, droht im Fall einer Verurteilung eine lebenslange Gefängnisstrafe.

Das wirft ihr die Anklage konkret vor: Am 22. Mai 2023 soll sie ihren Sohn in der Familienwohnung an der Liebezeitstraße in Billstedt mit einem Kissen erstickt haben. Das Motiv für die Tat liegt für Nicht-Prozessbeteiligte noch im Dunkeln, wird aber ein großes Thema in der Verhandlung werden. Die Frau hatte allerdings im Ermittlungsverfahren Angaben gemacht. Möglicherweise aktivierte eine Überforderungssituation in Kombination mit einer schweren depressiven Episode den Tötungsimpuls, wie das Abendblatt erfuhr.

Gutachter ging davon aus, dass die Frau für die Allgemeinheit nicht gefährlich ist

Nach dem Infantizid kam die Frau in Untersuchungshaft, der Haftbefehl wurde aber am 11. August 2023 wieder aufgehoben und die Frau entlassen. Der Gutachter sei davon ausgegangen, dass die 32-Jährige im Zustand verminderter Schuldfähigkeit handelte, als sie ihr Baby erstickte, sagte Liddy Oechtering, Sprecherin der Staatsanwaltschaft.

Der Experte wollte sogar nicht ausschließen, dass sie zur Tatzeit voll schuldunfähig war. Dadurch fiel die rechtliche Voraussetzung für die Fortdauer der U-Haft schon mal weg. Außerdem, so seine Prognose, stelle die Frau keine Gefahr für die Allgemeinheit dar. Damit kam dann aber auch eine psychiatrische Unterbringung nicht infrage.

Diese fehlerhafte Einschätzung sollte sich eine Woche nach ihrer Entlassung bitter rächen. In den frühen Morgenstunden des 18. August soll sie versucht haben, ihren schlafenden Lebensgefährten und den Vater ihrer zwei Kinder heimtückisch mit einem Messer zu ermorden. Der 37-Jährige wachte jedoch durch den Angriff auf, wehrte sich, entriss ihr die Tatwaffe. Er erlitt erhebliche Schnittverletzungen am rechten Arm, so die Anklage.

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Der Vater des erstickten Säuglings ist an dem Verfahren als Nebenkläger beteiligt. Ein Urteil wird nicht vor dem 28. März erwartet. Bisher sind sieben Verhandlungstage geplant.