Hamburg. Kirsten Fehrs steht ab jetzt an der Spitze der Evangelischen Kirche in Deutschland. Das sagt sie über das Versagen der Institution.

Kirsten Fehrs ist evangelische Bischöfin in Hamburg und Lübeck und war bislang stellvertretende Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Nach dem Rücktritt von EKD-Chefin Annette Kurschus steht die Hamburgerin nun kommissarisch an der Spitze der evangelischen Kirche, zu der rund 20 Millionen Mitglieder gehören. Im Abendblatt spricht die Theologin über den weiteren Weg der Kirche bei Prävention und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt.

Annette Kurschus trat von ihren Ämtern zurück

Annette Kurschus war bis zum vergangenen Montag Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
Annette Kurschus war bis zum vergangenen Montag Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). © Stefan Puchner/dpa | Unbekannt

Bischöfin Fehrs, Sie haben den Rücktritt von Frau Kurschus als „konsequent“ und „gradlinig“ bezeichnet. War er angesichts der Faktenlage überhaupt notwendig?

Kirsten Fehrs: Annette Kurschus selbst hat ja gesagt, dass bei dem wichtigen Thema Aufarbeitung sexualisierter Gewalt, das bei der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ganz oben auf der Agenda steht, Glaubwürdigkeit verloren gegangen ist. Und um diese schnellstmöglich zurückzugewinnen, hat sie die Entscheidung getroffen zurückzutreten. Ich habe, wie gesagt, hohen Respekt vor dieser Entscheidung.

Bischöfin Fehrs: Den Weg der Aufarbeitung weiter gehen

Warum hat sich der Rat der EKD nicht geschlossen hinter Frau Kurschus gestellt?

Wir haben im EKD-Rat viele Gespräche miteinander geführt. Und so sehr wir es auf der menschlichen Ebene bedauert haben, so gab es bei allen Beratungen die klare Prämisse, dass wir den eingeschlagenen Weg bei Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt konsequent weitergehen müssen.

Wie bewerten Sie die Zusammenarbeit mit den Betroffenen?

In den vergangenen eineinhalb Jahren habe ich die gemeinsame Arbeit im Beteiligungsforum als sehr konstruktiv und zielgerichtet wahrgenommen. Ich bin überzeugt, dass wir hier eine gute Basis geschaffen haben. Und ich bin überzeugt, dass wir mit der gewählten Struktur des Beteiligungsforums, die eine Mitwirkung von betroffenen Menschen garantiert, auf dem richtigen Weg sind.

Missbrauchsfälle: So sollen sie aufgearbeitet werden

Kirchenrechtler wie Thomas Schüller von der Uni Münster behaupten, dass die evangelische Kirche „weit hinter der Aufarbeitung von Missbrauch in der katholischen Kirche“ liegen. Teilen Sie diese Auffassung?

Ich halte wenig von solchen Vergleichen, weil sie suggerieren, dass es einen klar definierten Weg zur Aufarbeitung gibt, der für alle Institutionen gleich ist. Da schon die beiden Kirchen sehr unterschiedlich sind, in ihrer Struktur ebenso wie in ihren Entscheidungswegen, muss jede ihren eigenen Weg finden. Ich kann für die evangelische Kirche sagen, dass wir einen klaren Fahrplan haben.

Im Dezember den Abschluss einer Gemeinsamen Erklärung mit der Unabhängige Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, im Januar die Vorstellung der unabhängigen FORUM-Studie, die so umfassend wie nie zuvor die Dimension sexualisierter Gewalt in unserer Kirche, aber auch in der Gesellschaft aufzeigen wird. All das planen wir gemeinsam in einem Beteiligungsforum, in dem Betroffene paritätisch und auf Augenhöhe an den Prozessen beteiligt sind.

Der Eindruck ist doch gerade im Blick auf die Missbrauchsfälle in Ahrensburg, dass Sie als Bischöfin das intensive Gespräch mit den Betroffenen gesucht haben. Was waren die prägendsten Erfahrungen für Sie aus dieser Zeit?

Bischöfin Fehrs: „Ich bin maßlos schockiert“

Dass die betroffenen Menschen überhaupt mit mir geredet haben. Denn jedes Gespräch ist für sie hoch belastend gewesen. Zu hören, wie sie als junge Menschen in der Kirche sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch erlitten haben, wie sie manipuliert, drangsaliert, ja körperlich und seelisch grausam verletzt wurden, mit Folgen für das ganze Leben, hat mich maßlos schockiert und fassungslos gemacht.

Auch, dass meine Kirche hier nicht schützend eingegriffen hat. Für mich ist sofort klar gewesen: Die betroffenen Menschen reden, damit wir als Kirche alles uns nur Mögliche tun, dass Gewalt und Grenzverletzungen verhindert und Vorfälle gründlich aufgearbeitet werden. Diese Gespräche mit den Betroffenen haben mein Denken, Fühlen, meine Sprache und auch mein theologisches Nachdenken nachhaltig verändert. Wir müssen auch gesamtgesellschaftlich viel sensibler werden für die Situation betroffener Menschen.

Was werden Sie als kommissarische EKD-Ratsvorsitzende tun, um den Weg bei Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche konsequent weiterzugehen?

Zunächst kann es nur darum gehen, verlorenes Vertrauen wieder herzustellen. Dafür werden viele Gespräche notwendig sein. Und mit den Ergebnissen der für Januar angekündigten FORUM-Studie werden wir sicher viele strukturelle Probleme aufgezeigt bekommen, die wir zu bearbeiten haben. Wir haben noch ein gutes Stück Weg vor uns.

Kirche wählt im nächsten Jahr den EKD-Ratsvorsitz

Wie lange werden Sie das Spitzenamt in der EKD kommissarisch ausüben? Und wie geht es danach weiter?

Die Aufgabe als amtierende Ratsvorsitzende übernehme ich satzungsgemäß bis zur nächsten Synode im November 2024, auf der ein neuer Vorsitzender oder eine neue Vorsitzende offiziell gewählt werden wird. Eines ist heute schon klar: Wir werden den Weg der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie konsequent fortsetzen. Und wir halten daran fest, dass auf diesem Weg betroffene Menschen systematisch mitentscheiden.

Wie lässt sich diese momentane Aufgabe mit der als Bischöfin für Hamburg und Lübeck/Lauenburg zeitlich vereinbaren?

Ich bleibe hier ja Bischöfin und werde auch weiterhin im Sprengel Hamburg und Lübeck unterwegs und präsent sein. Momentan bin ich dabei, gemeinsam mit meinem Team den Kalender neu aufzustellen. Vermutlich werde ich nicht mehr jeden Termin wahrnehmen können, aber ich will mich weiterhin mit Kraft und Energie um die Themen kümmern, die hier dran sind: Ganz vorne derzeit der gesellschaftliche Zusammenhalt und der Dialog der Religionen, denn in diesen Zeiten braucht es unbedingt das Gespräch.

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