Hamburg. Bislang einmaliges Konzept: Ein besonderes Training mit zukünftigen Lasterfahrern soll Hamburger Grundschüler sensibilisieren.

Es ist eine Horrorvorstellung: Wenn das eigene Kind unter einen Laster gerät. Immer wieder passieren schwere Unfälle, bei denen Menschen durch rechtsabbiegende Lkw tödlich verletzt werden. Erst vor wenigen Tagen kam ein Radfahrer in Wilhelmsburg ums Leben.

Eine Lehrerin hat das Thema nun angepackt und ein Verkehrstraining mit angehenden Lasterfahrern und Grundschülern organisiert. Wenn diese aufeinandertreffen, dann kann dabei nur Gutes herauskommen – nämlich ein Perspektivwechsel, um mehr Verständnis füreinander zu entwickeln.

Verkehr Hamburg: Zukünftige Lkw-Fahrer kommen mit Kindern zusammen

Schüler und Schülerinnen der Klasse 4a der Grundschule Speckenreye in Hamburg-Horn kamen am Aktionstag zur Verkehrssicherheit großen 15- und 40-Tonnern so nah, wie es im Alltag nur selten passiert. Auf dem Schulhof der Beruflichen Schule Fahrzeugtechnik in Hamburg-Hamm war dieses Aufeinandertreffen allerdings völlig gefahrlos.

An fünf Lernstationen – Rückwärtsfahren, toter Winkel, rechts abbiegen, Parcours mit ferngesteuerten Fahrzeugen zum Nachempfinden und einem Planspiel, wozu Lkw nötig sind – brachten unter anderem die Lasterfahrer in Ausbildung den Viertklässlern unterschiedliche Gefahren nahe, erklärten ihnen, wie man sich im Straßenverkehr vor allem Lastern gegenüber richtig verhält.

Hamburg: Die fünf größten Gefahren im Verkehr für Kinder

Lehrerin Elisa Sulej, Mutter der zehnjährigen Grundschülerin Frieda, kam auf die Idee zu dieser Aktion. Sie unterrichtet die Azubi-Berufskraftfahrer und hat als Mutter Sorge um die Sicherheit ihrer Tochter. Ihr Ansatz: „Kinder und angehende Lkw-Fahrer sollen in dieser speziell entwickelten Unterrichtssequenz voneinander und miteinander lernen.“

Elisa Sulej erklärt das Verkehrstraining für Grundschüler
Elisa Sulej erklärt das Verkehrstraining für Grundschüler

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    Die Lehrerin und ihr Kollege Martin Jaroczewski, der auch Lkw-Fahrer ist, nennen die fünf größten Gefahren für Kinder im Straßenverkehr:

    1. Rechtsabbiegen: „Im Zweifel lieber stehen bleiben“

    Damit die Lütten wissen, wie es sich als Lasterfahrer anfühlt, dürfen sie oben im Fahrerhaus hinter dem Lenkrad sitzen, während ihre Klassenkameraden unten am aufgemalten Zebrastreifen stehen und die Straße überqueren wollen.

    „Hier lernen die Kinder, Respekt vor der Größe des Fahrzeugs zu haben. Sie lernen, dass sie mit dem Fahrer Blickkontakt aufnehmen sollen und im Zweifel lieber stehen bleiben und warten“, erklärt der 24-jährige Adem Okan, Azubi-Berufskraftfahrer, den Grundschülerinnen Amina und Frieda.

    Verkehrstraining mit Grundschülern und Lkw-Fahrern in der Ausbildung. Halima, Frieda und Amina mit einer Verkehrspolizistin vor einem herannahenden Laster. Was die Hamburger Kinder lernen: Der Blickkontakt mit dem Fahrer ist wichtig.
    Verkehrstraining mit Grundschülern und Lkw-Fahrern in der Ausbildung. Halima, Frieda und Amina mit einer Verkehrspolizistin vor einem herannahenden Laster. Was die Hamburger Kinder lernen: Der Blickkontakt mit dem Fahrer ist wichtig. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

    Also: „Erst nach links gucken, dann nach rechts und noch einmal nach links und dann erst gehen. Wenn ein Fahrzeug kommt, warten bis das Fahrzeug steht und dann Augenkontakt zum Fahrer aufnehmen.“

    Die Schüler, die im Fahrerhaus sitzen, lernen parallel, dass man als Lkw-Fahrer eben nicht alles sehen kann.

    2. Toter Winkel: „Man sieht die Menschen einfach nicht“

    Für eine Übung zum toten Winkel stellt sich ein Azubi in diesen, während die Kinder oben im Führerhaus des Lkw sehen, dass die Spiegel des Lastwagens den Azubi einfach verschlucken. Frieda, die Tochter von Elisa Sulej, ist jedenfalls überrascht, was der tote Winkel wirklich bedeutet.

    Sie hatte davon bereits gehört, aber oben im Führerhaus dieses etwa acht Meter langen 15-Tonners, erlebt sie, was es heißt, wenn ein Verkehrsteilnehmer sich im toten Winkel befindet. „Das ist so krass. Man sieht die Menschen einfach nicht“, sagt Frieda. „Ich muss also darauf achten, dass ich selbst nicht im toten Winkel stehe. Erst dann darf ich die Straße überqueren.“

    3. Fahrzeuge, die rückwärts aus einer Ein- oder Ausfahrt fahren

    Eine weitere Gefahr für Kinder im Straßenverkehr: Sie „fassen das Piepen des Lkw und das weiße Licht beim Rückwärtsfahren gar nicht als Warnung auf“, berichtet Martin Jaroczewski.

    Auch Grundschülerin Frieda hatte sich bisher nie Gedanken über das Geräusch gemacht. „Ich muss mehr darauf achten und lieber stehen bleiben.“

    4. Radfahrstreifen auf der Fahrbahn „hochgradig riskant“

    Ob Radfahrstreifen, die mit einer durchgehenden Linie von der Pkw-Fahrbahn abgetrennt sind oder Schutzstreifen mit einer gestrichelten Linie: Beides hält Mutter und Lehrerin Elisa Sulej für Kinder gefährlich. „Fahren auf der Fahrbahn halte ich für Kinder hochgradig riskant, aber ab zehn Jahren müssen Kinder auf dem Radweg fahren.“

    Solch einen Schutzstreifen auf der Fahrbahn gibt es beispielsweise auf der Edmund-Siemers-Allee stadteinwärts oder auf der Bogenstraße in Eimsbüttel.

    5. Gefährlich: Ein Laster schert im Verkehr aus

    „Kinder können gar nicht einschätzen, dass das Heck eines Lkw ausscheren kann, und wollen manchmal noch schnell vorbeifahren. Die Dimension der Fahrzeuge wollen wir ihnen mit dem Aktionstag verdeutlichen“, so Elisa Sulej.

    Ausbilder Danny Kretzchmar zeigt Frieda und Amina, wie ein Logistikzentrum funktioniert und wozu die Gesellschaft Lkw überhaupt braucht.
    Ausbilder Danny Kretzchmar zeigt Frieda und Amina, wie ein Logistikzentrum funktioniert und wozu die Gesellschaft Lkw überhaupt braucht. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

    Verkehr: Die hohe Fahrzeugdichte macht es so gefährlich in Hamburg

    Das Problem im Straßenverkehr sei besonders die hohe Verkehrsdichte: „Der Individualverkehr hat stark zugenommen, es gibt regelmäßig Stress zwischen Autofahrern und Fahrradfahrern."

    In keiner anderen deutschen Stadt haben Autofahrerinnen und Autofahrer im vergangenen Jahr so viel Zeit für den Arbeitsweg gebraucht wie in Hamburg. „Wo aber bleiben bei dieser Verkehrsdichte eigentlich die Kinder?“, fragt sich Martin Jaroczewski.

    Der Berufsschullehrer, der lange Zeit als Berufskraftfahrer gearbeitet hat, wünscht sich vor allem mehr Rücksichtnahme unter den einzelnen Verkehrsteilnehmern und eine intensivere Verkehrserziehung an den Kitas und Schulen. „Diesen Aktionstag mit Lkw-Fahrern und Schülern müsste es hamburgweit an jeder Schule geben.“

    Lkw-Unfälle: Noch mehr Technik macht das Fahren nicht sicherer

    Er sagt aber auch: Noch mehr Technik in den Lkw wird nicht mehr Sicherheit bringen. So ist ab dem 7. Juli 2024 für alle neu zugelassenen Fahrzeuge der Abbiegeassistent Pflicht. „Aber weitere Technik macht es nur schlimmer, weil der Fahrer schon jetzt so viel Technik hat, das fördert nicht die Konzentration“, sagt Martin Jaroczewski.