Hamburg. Jeden Abend strömen Hunderte Menschen auf die Große Freiheit – die neue Karaoke-Meile. Eine Hamburgerin ist fast immer dabei.

Die junge Frau hält das Mikrofon stolz in die Luft. Sie hat’s geschafft und auf der Bühne „Hit me baby one more time“ von Britney Spears gesungen. Bisschen schief. Aber egal. Der Applaus kommt von allen Seiten. Die Bühne, das mag vielleicht nur ein kleines Podest sein – aber es ist die Bühne in Hamburgs bekanntester Karaoke-Bar, der Thai Oase auf St. Pauli. Und das Publikum, das ist eine gut gelaunte Zufallsgemeinschaft, die heute hier ist, um gemeinsam durch die Nacht zu singen.

Auch Rebecca und ihre Freundinnen klatschen. Sie haben einen der begehrten Sitzplätze ergattert. Die Thai Oase, das ist ein langer Schlauch, gedimmtes Licht, ein Tresen, an den Wänden mehrere Teleprompter, auf denen die Liedtexte durchlaufen und in der Mitte das Wichtigste: die Bühne. Direkt daneben sitzt am DJ-Pult fast jeden Abend – so auch heute – Ek Rithvixay, 46, ein Mann mit einem immer fröhlichen Lächeln im Gesicht.

Karaoke auf dem Kiez: Gäste schreiben Liedwünsche auf Zettel

Er nimmt die Liedwünsche entgegen, die die Gäste auf Zettel schreiben. Schon gegen 22 Uhr ist der Stapel daumendick. Auch Rebecca hat einen Liedwunsch aufgeschrieben. „Verdammt, ich lieb‘ dich“ von Matthias Reim. Ihr Lieblingslied. Ihre Freundinnen haben sie überredet, sich auf die Bühne zu trauen. Und nach einer Weile war Rebecca dann auch überzeugt, dass das eine gute Idee ist. Also in der Theorie jedenfalls.

Als der DJ das nächste Lied ankündigt und es wieder nicht „Verdammt, ich lieb dich“ ist, entspannen sich ihre Gesichtszüge aber dann doch deutlich. Klare Sache: Wer sich hier allein auf die Bühne traut, der braucht auch ein bisschen Mut. Rebecca atmet tief durch und stößt noch mal mit ihren Freundinnen an. Mindestens ein Lied hat sie nun noch Zeit, bis es losgeht. Es können aber auch zehn sein, oder 30. Das weiß man hier nie so genau.

Gäste der Thai Oase feiern Karaoke-Sänger wie Popstars

Von den Gästen, die heute hier sind, wollen längst nicht alle selber ans Mikrofon. Aber alle wollen mitsingen. Und das tun sie auch. Manche nur zaghaft für sich, andere grölen lauthals mit, tanzen vor der Bühne und feiern die Karaoke-Sänger, als wären sie Popstars.

Jeden Abend strömen Hunderte Hamburger und Touristen in die Eck-Bar auf der Großen Freiheit. Von dienstags bis sonntags gibt es hier Karaoke von 21 Uhr bis in die Morgenstunden. Jeder Auftritt ist eine Wundertüte: von der schiefen Stimme, die sonst nur unter der Dusche singt, über die Musical-Sängerin, die nach der Vorstellung noch nicht genug hat, bis zum talentierten Hobbysänger ist alles dabei.

Große Freiheit ist nun eine Karaoke-Meile

DJ Ek Rithvixay betont: „Es ist völlig egal, ob jemand singen kann oder nicht. Die Leute wollen einfach eine gute Zeit haben.“

Eine gute Zeit haben, indem man gemeinsam singt. Es ist vielleicht das älteste Rezept für gute Laune, das es gibt. Und es funktioniert. Und das nicht nur in der Thai Oase. Die Große Freiheit ist inzwischen zur Karaoke-Meile geworden. Nur wenige Meter neben der Thai Oase bieten nun auch der Dollhouse Beachclub und der Colibri Club Karaoke an. Dreimal Karaoke direkt nebeneinander also. Und dennoch: Von Konkurrenz will hier niemand sprechen. Eher davon, dass der Karaoke-Hype auf dem Kiez einfach immer größer wird.

In der Thai Oase liegen Songbooks aus, in denen die Gäste nach ihren  Lieblingsliedern suchen können.
In der Thai Oase liegen Songbooks aus, in denen die Gäste nach ihren Lieblingsliedern suchen können. © Roland Magunia

Karaoke-Szene in Hamburg: Petra ist der Superstar

Das sagt zumindest Petra. Und sie muss es wissen. Sie ist so was wie der Superstar der Hamburger Karaoke-Szene. Seit Jahren schon kommt sie fast jeden Abend auf die Große Freiheit und tingelt von Mikro zu Mikro. 58 Jahre alt, kurze blonde Haare, Brille. Meist trägt sie einen gemütlichen Schlabberpulli. Kein klassischer Superstar-Look.

Aber die Hamburgerin liebt es, unterschätzt zu werden. „Wenn ich auf die Bühne gehe, dann sehe ich in den Blicken der jungen Leute, dass sie nicht viel erwarten.“ Und so schmunzelt Petra genüsslich, bevor sie den ersten Ton singt. Sie weiß schließlich, dass gleich tosender Applaus ausbricht. Egal, ob sie Tina Turner singt, Whitney Houston oder Ariana Grande.

Wenn Petra wie hier „Bang, Bang“ von Ariana Grande im Dollhouse Beachclub singt, dann wird es krachend laut.
Wenn Petra wie hier „Bang, Bang“ von Ariana Grande im Dollhouse Beachclub singt, dann wird es krachend laut. © Roland Magunia

Karaoke: Lieblingssongs von Robbie Williams, Helene Fischer und ABBA

Seit Anfang des Jahres hat Petra nun ihre eigene Karaoke-Show im Dollhouse-Beachclub. Jede Woche Dienstag und Mittwoch ab 20 Uhr nimmt sie als Karaoke-Jockey, kurz KJ, die Liedwünsche entgegen und entertaint bis morgens um zwei.

Danach übernimmt ein Kollege, damit Petra zumindest noch ein paar Stunden Schlaf bekommt, den sie für ihren Büro-Job braucht. „Ich war am Anfang ganz schön aufgeregt und wusste nicht, ob wir den Laden mit Karaoke voll bekommen“, erzählt sie. „Aber schon am ersten Abend haben die Gäste hier auf dem Tresen getanzt.“

Im Dollhouse Beachclub ist die Bühne ähnlich wie in der Thai Oase ein kleines Podest. Aber wenn die Gäste wollen, dürften sie auch den langen Tresen als Showbühne nutzen. Auch hier wandern die Liedwünsche auf Zetteln ans Pult zu Petra. Was die meist gewünschten Lieder sind? „Ganz weit vorne sind Angels von Robbie Williams und die großen Hits von ABBA und Helene Fischer.“

Karaoke-Hype auf dem Hamburger Kiez – der Mut allein zählt

Ob es Lieder gibt, die sie nach all den Jahren nicht mehr hören kann? „Nein, ich freue mich tatsächlich über jedes Lied, da es ja bei jedem Sänger wieder anders klingt.“ Auf die Mischung muss sie trotzdem achten. „Drei Balladen hintereinander kommen nicht so gut an. Für die Stimmung braucht es auch viele schnelle Party-Lieder.“ Etwa 20 Liedwünsche nimmt sie pro Stunde entgegen, wenn der Laden in den späteren Abendstunden gut gefüllt ist. Das ist auch an diesem Dienstag so.

„Je später der Abend, desto lockerer die Gäste und desto größer der Mut“, sagt Petra. „Das liegt bei einigen sicher auch am Alkohol, aber man wird auch so von der Stimmung mitgerissen.“ Was besonders wichtig sei: „Egal, wie schief jemand singt, niemand wird ausgebuht. Im Gegenteil. Wenn’s mal so richtig daneben geht, singen die Gäste einfach noch lauter mit, und am Ende gibt’s einen doppelt großen Applaus.“ Der Mut allein zählt.

Karaoke: Im Colibri Club singen Gäste auf großer Showbühne

Das gilt ganz besonders auch für die Sängerinnen und Sänger im Colibri Club schräg gegenüber. Denn hier ist die Bühne kein Podest, sondern eine richtig große Showbühne, zu der man über eine Treppe gelangt. Manch einer traut sich das nicht allein.

Aber wer mag, der bringt halt Verstärkung mit. Zu zweit, zu dritt oder gleich mit dem ganzen Freundeskreis im Schlepptau geht es leichter. Manche halten sich zuerst an den Händen, wachsen mit jeder Sekunde gemeinsam rein. Gehen als Angsthasen hoch und fühlen sich als Stars, wenn sie wieder runterkommen. So auch die zehnköpfige Gruppe, die gerade gemeinsam „Monsta“ von Culcha Candela singt.

Im Colibri auf der Großen Freiheit singen die Gäste auf einer großen Showbühne.
Im Colibri auf der Großen Freiheit singen die Gäste auf einer großen Showbühne. © Roland Magunia

Ganz vorne im Publikum sitzt die 24-jährige Hanna mit einer Freundin, die nicht aus Hamburg kommt und der sie unbedingt die Karaoke-Show zeigen wollte. Hanna ist hier Stammgast. Warum? „Es ist wie ein Konzert, bei dem man die Künstler nicht kennt. Das ist etwas ganz Besonderes.“

Dass man auch im Colibri Club auf Karaoke setzt – und das gleich an sieben Tagen in der Woche – ist relativ neu. Ausgerechnet während der Corona-Pandemie hat man hier auf Karaoke umgestellt. Wie das kam, kann Mitarbeiter Manu erklären. „Zeitweise durften wir maximal 50 Gäste an festen Sitzplätzen empfangen. Und da haben wir überlegt, dass wir denen irgendetwas bieten müssen“, erzählt er.

Karaokesingen: Es gibt Gäste, die kommen jeden Abend

Inzwischen sind die Corona-Regeln Geschichte – die Karaoke aber ist geblieben. Fast jeden Abend ist es voll. „Das Besondere hier ist, dass wir durch die große Bühne hier ein echtes Star-Gefühl für die Sängerinnen und Sänger schaffen können“, sagt Manu.

Die Gäste im Colibri Club feiern die Karaoke-Sänger auf der Bühne.
Die Gäste im Colibri Club feiern die Karaoke-Sänger auf der Bühne. © Roland Magunia

Wer in die Karaoke-Szene auf dem Kiez eintaucht, der stellt schnell fest, dass es einen harten Kern gibt, der regelmäßig kommt. Manche sogar jeden Abend. So wie Dominik Holz, der auch heute im Colibri auf der Bühne steht. Sein Markenzeichen: raue Stimme und ganz große Gefühle. Am liebsten singt er Balladen und Liebeslieder. Heute: „Bed of roses“ von Bon Jovi. Die Menge singt lauthals mit – nicht nur im Refrain.

Thai Oase: Gesangsqualität im Laufe des Abends oft besser

Vor 20 Jahren ist Dominik durch Zufall das erste Mal in der Thai Oase gelandet und hat es einfach mal versucht. „Und dann war es so schön, dass ich einfach nicht mehr damit aufhören wollte“, sagt er. Auf seine allabendlichen Auftritte bereitet er sich nicht vor. „Ich übe auf der Bühne“, sagt er. „Und wenn es mal daneben geht, ist es auch egal. Die Karaoke-Bars haben kein Gedächtnis.“

Nachdem er „Bed of roses“ zu Ende gesungen hat, will er noch auf ein Lied rüber in die Thai Oase. Dort ist es inzwischen gut gefüllt. Der Stapel, den DJ Ek vor sich liegen hat, ist auf das Doppelte angewachsen. Der Alkoholpegel der Gäste wahrscheinlich auch. Ob die Qualität im Laufe des Abends eher steigen oder sinken würde? Ek lacht. „Es wird tatsächlich immer besser“, findet er.

Karaoke – die wohl friedlichste Party auf dem Hamburger Kiez

Seit zehn Jahren arbeitet er in der Thai Oase. Jeden Nacht eine neue Partygemeinschaft, jeden Tage eine neue Playlist, jede Nacht Helene Fischer, Oasis und Robbie Williams. Aber eben auch jede Nacht die wohl friedlichste Party auf dem Kiez. „Aggressives Verhalten hab ich hier in den vergangenen zehn Jahren höchstens ein-, zweimal erlebt. Wer hier herkommt, der sucht Spaß und keinen Ärger“, sagt Ek.

Und dann ruft er das nächste Lied auf: „Matthias Reim. Verdammt, ich lieb’ Dich.“ An Rebeccas Tisch bricht große Freude aus, und Rebecca traut sich tatsächlich – und singt ihren Lieblingssong aus voller Seele mit. Als sie fertig ist und ihr verdienter Applaus abgeklungen ist, strahlt sie und sagt: „Ich würde am liebsten gleich noch mal.“