Hamburg. Im Juni 2022 wurde ein 56-Jähriger angerempelt und fiel vor eine einfahrende Bahn. Zu einem Hauptverfahren kommt es aber nicht.
Erst Anfang Februar hatte das Abendblatt exklusiv über die Anklageerhebung im Fall des sogenannten Fahrradschubsers von Ohlsdorf berichtet – doch zu einem Prozess wird es nun nicht mehr kommen. Wie berichtet, waren im S-Bahnhof Ohlsdorf ein 62-Jähriger und ein 56-Jähriger, der mit einem Fuß auf dem Pedal seines Fahrrads über den Bahnsteig rollte, am 7. Juni 2022 zusammengestoßen.
Der Radler geriet ins Straucheln, fiel ins Gleisbett und wurde von einer einfahrenden S-Bahn tödlich verletzt. Polizei und Staatsanwaltschaft gingen davon aus, dass der 62-Jährige den Mann zwar nicht habe töten wollen – dass er ihn jedoch bewusst angerempelt und so dessen Tod verschuldet habe.
Bahnhof Ohlsdorf: 62-Jähriger hat den Verstorbenen „nicht bewusst wahrgenommen“
Wie das Oberlandesgericht am Mittwoch mitteilte, hat das Landgericht Hamburg die Anklage gegen den 62-jährigen Angeschuldigten wegen Körperverletzung mit Todesfolge nicht zugelassen. Das bedeutet: Es wird kein Hauptverfahren, keinen Prozess geben.
Dem gerichtlichen Beschluss vom 30. März 2023 zugrunde liegt ein Unfallrekonstruktionsgutachten, das sich auf die Videoaufzeichnungen vom Unfallort stützt. Daraus gehe hervor, dass der Angeschuldigte den Verstorbenen „überhaupt nicht bewusst wahrgenommen“ habe und „vielmehr selbst von dem Zusammenstoß überrascht“ worden sei.
Staatsanwaltschaft Hamburg: 62-Jähriger wollte den Radfahrer „disziplinieren“
Die Staatsanwaltschaft hingegen hatte das Geschehen ganz anders bewertet. Demnach habe der 62-Jährige die Kollision „aus Verärgerung über das Radfahren auf dem Bahnsteig bewusst herbeigeführt“. Der Anklage zufolge sei er damals „gereizt“ gewesen, weil er einen Flug habe erreichen wollen, weil die S-Bahn verspätet und kein Taxi verfügbar gewesen sei. Das Opfer, so die Anklage weiter, habe er wegen dessen „unangemessenen Verhaltens disziplinieren wollen“.
Unmittelbar nach dem Sturz habe der Angeschuldigte einen Notruf abgesetzt, so das Gericht. Der 62-Jährige flog dann nach München, kontaktierte von dort die Hamburger Polizei und wurde bei seiner Rückkehr zwei Tage später am Flughafen festgenommen. Zunächst kam er in U-Haft, aus der er Ende Juni wieder entlassen wurde.
Bahnhof Ohlsdorf: 62-Jähriger ging von Unfall ohne Fremdverschulden aus
Dass der Angeschuldigte sich nach dem Notruf nicht als Zeuge vor Ort zur Verfügung gehalten habe, erlaube keinen Rückschluss auf eine vorsätzliche Herbeiführung der Kollision, so das Gericht.
Es sei vielmehr so, dass der 62-Jährige aus seiner eigenen Sicht von einem Unfallgeschehen ohne Fremdverschulden ausgegangen sei: dass nämlich er angerempelt worden sei und dass das Opfer dabei das Gleichgewicht verloren habe. Augenzeugen hätten zudem ausgesagt, dass nach ihrer Erinnerung der 62-Jährige bei der Kollision „überrascht“ gewirkt habe.
Ein Sachverständiger, der das Geschehen per Video rekonstruierte, kam zu dem Ergebnis, dass der Tod des 56-Jährigen ein Unfall war. Damals sei es sehr voll gewesen auf dem Bahnsteig und das Blickfeld des 62 Jahre alten Angeschuldigten so verdeckt, dass er den über den Bahnsteig rollenden Radler erst kurz vor dem Zusammenstoß habe sehen können.
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Nachweis einer bewusst herbeigeführten Kollision „fernliegend“
Einen anderen Eindruck habe indes die Perspektive der Videoaufzeichnung von oben vermittelt. „Aufgrund der schwierigen Sichtverhältnisse sei es deshalb fernliegend, dass in der Hauptverhandlung nachgewiesen werden könne, der Angeschuldigte habe die Kollision bewusst herbeigeführt“, so das Gericht.
Dabei bleibt es auch. Wie Liddy Oechtering, Sprecherin der Hamburger Staatsanwaltschaft, dem Abendblatt auf Anfrage sagte, habe ihre Behörde keine Beschwerde gegen den Nichteröffnungsbeschluss eingelegt.