Hamburg/Kiew. Die früheren Box-Weltmeister stellen sich dem russischen Präsidenten entgegen und ringen um ihre Heimat, ihre Werte und ihr Leben.
Diese Ansage trifft ins Herz. Und reißt es entzwei. „Stoppen Sie den Krieg. Jetzt. In einer Stunde oder morgen ist es zu spät. Handeln Sie jetzt!“ Wladimir Klitschko richtet die Kamera auf sein Gesicht. Man sieht die kleinen Falten, ahnt die großen Sorgen und erkennt die Narben, die zwei Jahrzehnte eines Lebens als Profiboxer mit sich gebracht haben. „Hier werden Zivilisten von Raketen getroffen. In einem Krieg, den Russland begonnen hat. Das passiert gerade hier – im Herzen Europas.“
Der „kleinere“ der beiden Klitschko-Brüder verbreitet diesmal keine Fitness-Botschaft oder einen Motivations-Trailer über Instagram. Wer ihn ein bisschen kennt, ahnt: So verzweifelt war er nie. Er spricht Englisch, das er besser kann, als es hier aus ihm herausbricht, dreht auch ein Video auf Deutsch, wirkt hektisch, sagt: „Spendet für die Ukraine, für den Frieden. Lang lebe die Ukraine, lang lebe Europa! Danke.“
Ukraine-Krieg: Wladimir Klitschkos dramatische Botschaft
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46 Jahre wird er in drei Wochen. In Kasachstan wurde Wladimir Klitschko geboren, als es noch sowjetische Teilrepublik war. Mehr als 25 Jahre Leistungssport liegen hinter ihm. Er und sein Bruder Vitali (50) geboren in Kirgisistan, zogen aus ihrer Heimat Kiew nach Hamburg, um die Boxwelt zu erobern. Dieser erfolgreiche Siegeszug nach den Regeln des klassischen Faustkampfes verlief in Teilen parallel zum Auf und Ab im Unabhängigkeitsstreben ihrer Heimat.
Es ist Krieg – und die Ukrainer, die Hamburg so verbunden sind, sind mittendrin. Ihr Weg nach Westen führte sie zuerst nach Flensburg, wo sie als Amateure boxten, und dann nach Hamburg. Bei Klaus-Peter Kohls Universum in Wandsbek wurden die Klitschkos zu internationalen Stars, trafen im Ring die zeitgemäße Konkurrenz, trafen außerhalb Präsidenten, Unternehmer, Künstler, sie waren Unicef-Botschafter und reiften zu omnipräsenten Persönlichkeiten.
In Hamburg haben die Klitschkos ihr zweites Zuhause
Einer von beiden machte immer irgendetwas aufregend Neues. Sie spielten in Filmen mit, ließen Dokumentationen über ihr Leben von Kiew ins globale Dorf anfertigen, vergackeierten sich gegenseitig in der Werbung. Das war vergleichsweise authentisch. Beide können extrem witzig sein. In ihren frühen Hamburger Karrierejahren haben sie unter Journalisten geheimnisvoll gestreut: Es gibt noch einen dritten Bruder …
Alles Quatsch, alles vorbei. Der Weg der Klitschkos zurück nach Kiew war so extrem unterschiedlich, wie die Brüder es auch charakterlich sind. Vitali, der vermeintlich ernstere, der politischere der beiden, schielte früh auf ein öffentliches Amt. Ihm ging der Prozess zu Unabhängigkeit, Marktwirtschaft, europäischer Integration nie schnell genug. Er wetterte gegen die Korrupten in Kiew, die wie in Moskau Politik und Wirtschaft „verflochten“. Vitali unternahm mehrere Anläufe auf das Rathaus, kandidierte für das ukrainische Parlament, wollte am liebsten Präsident werden. 2014 wurde er Bürgermeister von Kiew.
Vitali Klitschko und zwei Helm-Geschichten
Wenn sein Vorvorgänger Alexander Omeltschenko Ende der 90er-Jahre nach Hamburg flog, um sich am Ring mit den beiden K-.o.-Garanten zu zeigen, verzog Vitali gequält lächelnd das Gesicht. „Er ist ein Mensch von Politiker“, pflegte der tonangebende der beiden Brüder über den öffentlichkeitsbeflissenen Stadtvater zu sagen. Ein Politiker mit blau-gelber Fahne, um sie in den Wind zu hängen. Das waren seine Worte, um zu signalisieren: Zu dieser Bande möchte ich nicht gehören.
Aber er musste. Musste in den vergangenen Jahren Kompromisse mit anderen Politikern eingehen, musste die Idee begraben, den früheren New Yorker Stadtoberen Rudy Giuliani als Berater zu holen, sich arrangieren mit den Stadt- und Staatsoberen. Als Ex-Weltmeister wurde er im Parlament provoziert, beleidigt, sogar tätlich angegriffen – nur, um ihn aus der Fassung zu bringen. Denn hätte er nur einmal zurück- und zugeschlagen, seine zweite Karriere nach dem Ring wäre vorbei gewesen. Vitali Klitschko, der immer alles selbst regeln wollte und konnte, suchte sich professionelle Hilfe. Er charmierte die CDU und Bundeskanzlerin Angela Merkel, wollte lernen von einer in Europa tief verwurzelten Partei. Das kam nicht bei allen Ukrainern gut an.
Wladimir Klitschko traf Wladimir Putin
Als Boxer hatte Vitali Klitschko seinem Gegner Timo Hoffmann aus Scherz vor ihrem Duell einst einen Helm mitgebracht, damit dieser sich gegen die Schläge schützen könne, die Klitschko auszuteilen beabsichtigte. Vor dem Einmarsch von Putins Truppen flehte Klitschko Anfang Februar um Waffen. Er höhnte über das Angebot aus Deutschland, 5000 Helme zu schicken: „Das ist ein absoluter Witz. Wir brauchen Waffen.“ Ironie einer Heldengeschichte.
Und sein Bruder? Wladimir boxte noch bis 2017, baute seine Hamburger Firma weiter aus, lehrte an der Uni St. Gallen, schrieb Ratgeber, war universell einsetzbarer Werbebotschafter. Die Sonne dieses Charmeurs erhellte die interessierte Öffentlichkeit. Doch sein Jetset-Leben ist vorbei. Freiwillig flog er an die Seite seines Bruders. Ihr Traum, Weltbürger zu werden und zu bleiben, ist im Albtraum von Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine zerplatzt. Beide wissen: Neben Präsident Wolodymyr Selenskyj, den sie für ein Leichtgewicht hielten ob seiner Vergangenheit als Komiker, sind sie selbst zu Wladimir Putins Todfeinden geworden.
Der Klitschko-Weg des „Go West!“, schon das Einsetzen für die Orangene Revolution und gegen die Besetzung der Krim waren dem russischen Alleinherrscher ein Dorn im Auge.
Einsatz in Tschernobyl: Papa Klitschko war Sowjet-Offizier
Da oder dort haben sie sich am Rande von Veranstaltungen getroffen und Interesse geheuchelt: der Kremlpate und das Bruderpaar aus der eigenwilligen, eigenständigen Republik. Doch die Klitschkos wissen, wie die Sowjets und ihre Nachnachfolger ticken. Sie waren selbst Teil des Systems. Ihr Vater war als Offizier der Luftwaffe immer dort stationiert, wohin ihn der Kreml schickte. Kirgisistan, Kasachstan, Tschechien. 1986 gehörte Papa Klitschko zu den Helfern rund um das havarierte Atomkraftwerk in Tschernobyl. In Hamburg ließen die Brüder ihn noch behandeln. Es war zu spät. 2011 starb er an Krebs.
Auch Mutter Klitschko, eine Lehrerin, hatte die Söhne zu allerlei Pflichten erzogen. Wladimir brachte sie zuletzt ebenfalls zur Behandlung nach Hamburg. Nur hier vertraute er den Ärzten wirklich. Vater Klitschko wurde in der Post-Gorbatschow-Ära mit der Unabhängigkeit der Ukraine sogar Militärattaché.
Die Klitschkos wurden zum Symbol für die Wendezeit
Sein Weg hat viel mit der Karriere der Söhne zu tun. Die Brüder waren Ende der 90er für manche Osteuropäer das, was Muhammad Ali in den 60ern des 20. Jahrhunderts für das Aufbegehren der Afroamerikaner gegen die rassistische Diskriminierung in den USA war – ein Symbol, eine Projektionsfläche für eine Wendezeit. Sie lebten zeitweise in den USA, hatten ihre Familienbasis in Hamburg, ließen Vitalis Kinder auf die Internationale Schule gehen. Natürlich konnten sie es sich auch leisten, denn die Klitschko KG hatte sich ein kleines Imperium aufgebaut, das den Ring-Lorbeer vergoldet hatte.
Trotz des materiellen Scheins – das sieht man heute hinter der Fassade von erkämpftem Wohlstand mit Immobilien und Hotel: Die Klitschkos sind auch Idealisten, leidenschaftliche Patrioten. In Kriegszeiten können das zweifelhafte Eigenschaften sein. Putins Gesellen hatten sie schon einmal hinters Licht geführt. Als Wladimir 2013 gegen den Russen Alexander Powetkin um die Weltmeisterschaft boxen sollte, ersteigerte ein Geschäftsmann aus Moskau den Kampf um mehrere Titel für die aberwitzige Summe von 23 Millionen Dollar. Die Gebote der Klitschko-Gruppe und von Powetkins Management hatten weit darunter gelegen.
Putin wollte die Klitschkos austricksen
Immobilienmogul Andrej Ryabinskiy veranstaltete den Kampf in Moskau zusammen mit dem Energieriesen Rosneft. Dessen Chef hat eine Standleitung zu Putin. Die Klitschkos bemühten sich vorher, das Politische dieses Events herunterzuspielen. Vergeblich. Der Kampf wurde von Russen wie Ukrainern zum nationalen Duell hochgejazzt. Das verbale Geplänkel vor dem ersten Gong erinnerte an schlimmste Zeiten des Kalten Krieges. Wladimir Klitschko brauchte zwölf Runden für den Sieg, führte Powetkin allerdings boxerisch vor und schlug ihn viermal zu Boden.
Das ist Geschichte. Das war Sport, trotz aller nationalen Aufladung. In der Ukraine herrscht heute ein Krieg, von dem niemand westlich von Lwiw (Lemberg) erwartete, dass er sich so entwickelt. Vitali und Wladimir Klitschko ahnten es offenbar. Die Unbarmherzigkeit, die Kälte eines diktatorischen Alleinherrschers war ihnen vertraut. Vitali Klitschko sagte Anfang Februar im ZDF in einer kühlen Prognose, die damals unrealistisch wirkte: „Wenn die Russen einmarschieren, dann haben wir keine andere Wahl, als unser Land, unsere Familien zu verteidigen.“ Die Brüder nehmen – buchstäblich – die Waffen in die Hand. Die Zeit der Fäuste ist vorbei.