Hamburg . Jamil S. (29) verletzte seine damals 19 Jahre alte Ex-Partnerin an einer Bushaltestelle lebensgefährlich. Strafe auch für Sexvideos.
Um 6.17 Uhr und 49 Sekunden steht Pola B. (Name geändert, die Red.) an der Bushaltestelle Kandinskyallee und ruft per Handy ihre Mitfahrgelegenheit an. Das Auto wird in drei Minuten da sein, dann soll es nach Berlin gehen. Doch eine Minute später, um 6.18 Uhr und 58 Sekunden, klingelt es in der Einsatzzentrale der Polizei. Ein Notruf. „Einer hat mich abgestochen!“ schreit Pola B. und fleht: „Bitte helfen Sie! Ich werde gleich ohnmächtig, ich habe ein Messer im Kopf!“
Minuten und Millimeter haben am 23. Juni 2022 über gewaltiges Pech einerseits und gewaltiges Glück andererseits entschieden. Pola B. hatte Pech, weil ihr Ex-Freund Jamil S. so kurz vor der Abfahrt noch an der Haltestelle aufgekreuzt war. Er hatte ein Messer in der Hand und einen Mordplan im Kopf. Pola B. sollte sterben, weil sie sich von ihm getrennt hatte. Wäre Jamil S. nur zwei Minuten später gekommen – er hätte sie nicht mehr erwischt.
Prozess Hamburg: Gericht wollte die Strafe nicht abmildern
Pola B. hatte aber auch Glück: Die Neun-Zentimeter-Klinge, die er ihr wuchtig in den Schädel rammte, verfehlte den Sehnerv ihres linken Auges nur um Millimeter. Zurückgeblieben sind jedoch tiefe Wunden, körperliche und seelische.
Ungesühnt bleibt die Tat aber nicht: Das Landgericht hat Jamil S. am Montag zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, vor allem wegen des heimtückischen Mordversuchs. Weil es bei einem Versuch blieb, wenn auch nahe der Vollendung, hätte das Gericht die Strafe mildern und zeitlich befristen können, sagt der Vorsitzende Richter Matthias Steinmann. Doch davon habe die Kammer keinen Gebrauch gemacht. „Die Strafe spiegelt den hohen Unwertgehalt der Tat wider und ist unserer festen Überzeugung nach tat- und schuldangemessen“, so Steinmann. Jamil S. kommt also frühestens in 15 Jahren auf freien Fuß. Mit dann 44 Jahren.
Das Opfer überlebte nur dank einer Notoperation
Als Steinmann über den Tatablauf spricht, muss sich Nebenklägerin Pola B. eine Träne aus dem Auge wischen. Sie überlebte den 23. Juni nur dank einer langen Notoperation. Als sie ins Krankenhaus eingeliefert wurde, steckte die Klinge noch in ihrem Kopf. Vielleicht sei das auch ihr Glück gewesen, so Steinmann: Denn so habe Jamil S. wenigstens nicht weiter auf sie einstechen können. Ein Stich hinterließ eine lange, tiefe Narbe auf ihrer rechten Wange, ein weiterer durchtrennte einen Gesichtsnerv, ihre Mimik wird dauerhaft gelähmt bleiben. „Jeden Tag, wenn sie in den Spiegel schaut, wird sie an die Tat erinnert“, sagt Steinmann.
Pola B. und Jamil S. hatten sich 2017 über Instagram kennengelernt, da war sie 14, er bereits 23 Jahre alt. Einige Monate zuvor, im Januar 2017, hatte ihn seine erste Frau, die mit ihm nach islamischem Ritus verheiratet war, „fluchtartig“ mit dem gemeinsamen Sohn verlassen – er hatte sie zuvor geschlagen. 2020 wurden Pola B. und er ein Paar, da war er ohne ihr Wissen bereits zum zweiten Mal verheiratet. Als sich beide Frauen im Dezember 2020 zufällig in seiner Wohnung begegneten, zog auch die Zweite einen Schlussstrich. Ehefrau Nummer 3 wurde dann Pola B.
Pola B. gab dem Angeklagten im Juni 2022 den Laufpass
Dem Angeklagten sei es immer nur um sich selbst, um „die Befriedigung seiner Bedürfnisse“ gegangen, sagt Steinmann. „Die Beziehung war permanent ambivalent, das Verhältnis toxisch.“ Davon zeugten auch die Übergriffe. Siebenmal versteckte Jamil S. sein Handy und filmte damit sich und Pola B. beim Sex – ohne ihr Wissen. Fassungslos habe das Gericht registriert, wie er in einer Szene in die Kamera grinst, ein Victory-Zeichen formt und mit erhobenem Daumen auf sich zeigt. Im Juli 2021 schließlich vergewaltigte er die fast zehn Jahre jüngere Frau. Auch für diese Taten sprach ihn das Gericht schuldig.
Nach einigen kürzeren Trennungsphasen gab Pola B. ihm im Juni 2022 ultimativ den Laufpass – wahrhaben wollte Jamil S. das nicht. Am Vortag der Tat stahl er heimlich ihren Pass, um zu verhindern, dass sie ihrer Familie in den Türkei-Urlaub hinterherreiste. Pola B. wollte sich deshalb in Berlin Ersatzpapiere beschaffen. Das aber habe der Angeklagte – das endgültige Beziehungs-Aus vor Augen – nicht zulassen können, so das Gericht. Am 23. Juni folgt er einem spontanen Entschluss.
Während der Haft hat sich der Angeklagte entschuldigt
Komplett schwarz gekleidet sticht Jamil S. hinterrücks auf die an der Bushaltestelle wartende Pola B. ein – und zwar so hart, dass die Klinge in ihrem Schädel stecken bleibt. Als er versucht, sie herauszuziehen, bricht der Griff ab. Danach flüchtet er, wechselt sein Hemd, um die Spuren zu verwischen, geht zur Schule und verwickelt dort Schüler in zwanglose Gespräche. Dem Opfer schreibt er eine SMS mit den Worten: „Bist du eingepennt?“ Steinmann: „Das ist so eiskalt, dass einem das Blut in den Adern gefriert.“ Im Affekt habe der Angeklagte jedenfalls nicht gehandelt.
Fünf Stunden später nimmt die Polizei ihn in der Schule fest – Pola B. hatte den Beamten noch seinen Namen nennen können. Während der Haft habe er sich zwar per Brief entschuldigt und dem Opfer 1000 Euro gezahlt – „doch das reichte nicht“, sagt Steinmann. Die Beweislage gegen ihn sei „erdrückend“: Da seien unter anderem die Chatverläufe oder der bei ihm sichergestellte Messergriff. „Sie haben uns die Spuren wie auf dem Silbertablett serviert“, so der Richter.
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Prozess Hamburg: Von Pola B. ist eine extreme Last abgefallen
Pola B. hat den Angriff überlebt. Doch vier Frauen starben 2022 in Hamburg durch die Hand ihres ehemaligen oder aktuellen Partners. In drei weiteren Fällen blieb es beim Versuch. Durchschnittlich fallen pro Jahr elf Menschen versuchten oder vollendeten Tötungsdelikten in partnerschaftlichen Beziehungen zum Opfer. Eine drastische Zunahme von Fällen häuslicher Gewalt hatte die Polizei zudem im ersten Corona-Jahr 2020 verzeichnet. 77 Prozent der Opfer sind weiblich.
Ein Opfer? So sieht sich Pola B. nicht. Nachdem sie still zugehört hat, entlädt sich bei der jungen Frau die Anspannung nach der Urteilsverkündung schlagartig. Man hört sie über den ganzen Flur schreien. Ihr Anwalt Rolf Huschbeck sagt, was alle sehen und hören können: „Von ihr ist gerade eine extreme Last abgefallen.