Hamburg. Mit „Was guckst du so?“ fing es an: Ein 18-Jähriger, der auf den Bus wartete, überlebt knapp. Der Prozess offenbart erschreckende Details.
Für den jungen Mann mit den grün-gelben Dreadlocks, den traurigen Augen und der teilgelähmten Hand hätte es noch schlimmer ausgehen können – dabei ist auch so schon alles schlimm genug. Acht Minuten nachdem er vor gut einem Jahr Obaidullah H. und dessen Freund Marcio B. an einer Wilhelmsburger Bushaltestelle zum ersten Mal sah, acht Minuten nach der initialen „Was guckst du so?“-Provokation, lag Walid M. im Dreck. Getroffen von acht wuchtigen Messerstichen, mehr tot als lebendig. Er überlebte nur, weil Zeugen Alarm schlugen. Der 18-Jährige musste reanimiert und notoperiert werden.
Obaidullah H. wäre in jener Nacht um ein Haar zum Mörder geworden – wegen nichts. Dass die Situation aus nichtigem Anlass derart eskalieren konnte, so sieht es das Landgericht, hat damit zu tun, dass der 20-Jährige den kruden Verhaltensformen „toxischer Männlichkeit“ nachhängt. Wie ein Zug ohne Bremsen, gefangen auf den Schienen seiner „schädlichen Neigungen“ und bis ins Kindesalter zurückreichenden (Gewalt-) Erfahrungen, gingen am 23. Juli 2021 gekränkter Stolz und Machtversessenheit, Rache und Wut eine unheilvolle Allianz ein. „Andere Handlungsoptionen“ habe der Angeklagte deshalb nicht sehen können, sagt Richterin Anne Meier-Göring.
18-Jährigen fast getötet – Angeklagter erhält fünf Jahre Jugendhaft
Obaidullah H. hat nun reichlich Zeit, sein Fehlverhalten in einer Therapie aufzuarbeiten – in Haft. Mit einer Jugendstrafe von fünf Jahren wegen versuchten Totschlags, gefährlicher und schwerer Körperverletzung blieb das Gericht noch ein halbes Jahr über dem Strafantrag der Staatsanwaltschaft. Den zweiten Angeklagten, den 18 Jahre alten Mitläufer Marcio B., verurteilte es zu einer Bewährungsstrafe von 20 Monaten.
Aber was ist das schon, gemessen an den Folgen für das Opfer? Im Saal sitzt Walid M. Der Nebenkläger ist so jung und wirkt doch unendlich müde und verloren. Man habe ihn als „traurigen, verbitterten jungen Mann“ erlebt, sagt Meier-Göring. Er wird seine rechte Hand nie wieder richtig benutzen können, kriegt schlecht Luft, leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Seine Ausbildung hat er abgebrochen.
Am 23. Juli 2021 wartet Walid M. am Vogelhüttendeich auf den Bus. Er selbst ist traurig und gereizt, denn tags zuvor hat seine Freundin eine Fehlgeburt erlitten. Er trägt einen Blümchenhut, dazu die bunten Haare, das wirkt ziemlich schrill – und auf einige offenbar provokant. Gegen 23.50 Uhr sieht er zwei junge Männer, die sich der Haltestelle nähern. Einer ruft: „Was guckst du so?“
„Was guckst du so?“
Der da ruft, ist Obaidullah H., er hat seinen Freund Marcio im Schlepptau. Die beiden gebürtigen Hamburger haben zuvor reichlich Jägermeister getrunken, ein Joint machte die Runde. Obaidullah H. hat auch deshalb schlechte Laune, weil sein Freund schon nach Hause möchte. Um Walid M. einzuschüchtern, zeigt er ihm sein Butterflymesser, warnt: „Lass uns beide nichts tun, was wir später bereuen werden.“ Für das Gericht ist dieser Satz ein klares Indiz dafür, dass der Angeklagte früh die Gefahr der Eskalation erkannt habe. Statt zurückzustecken, habe Walid M. erwidert: Er habe auch ein Messer. Zwar hat Walid M. im Prozess beteuert, kein Messer an jenem Abend dabeigehabt zu haben. Das nehme ihm das Gericht jedoch nicht ab.
Beide gehen dann um die Ecke. „Der Klassiker: zwei Männer, die etwas klären wollen“, sagt Meier-Göring. Erst hört Obaidullah H. ein paar Beleidigungen auf Französisch, dann trifft ihn die Faust von Walid M. im Gesicht. Nach Überzeugung des Gerichts löst die überraschende Attacke mit anschließender Flucht eine Kaskade unheilvoller Emotionen bei dem 20-Jährigen aus, der es gewohnt sei, jede Situation zu kontrollieren. Er habe sich gedemütigt gefühlt. „Jetzt war klar, dass die Sache in einer Tragödie enden würde“, so Meier-Göring.
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Auf der Flucht stürzt Walid M., wird von seinen Peinigern eingeholt, kauert auf dem Boden, ein Messer in der Hand. Sodann habe er „in Verteidigungsabsicht“ einmal zugestochen und Obaidullah H. eine Wunde am Bein zugefügt, so Meier-Göring. Bei dem 20-Jährigen brennen da alle Sicherungen durch: In seinem Stolz verletzt, voller Zorn und auf Rache sinnend, habe er achtmal auf Walid M. eingestochen. Obaidullah H. habe gewusst, dass die Stiche tödlich sein könnten, doch das sei ihm in diesem Moment „egal“ gewesen. Währenddessen, „aus falscher Loyalität“, habe Marcio das Opfer dreimal getreten. Dann seien die Täter geflüchtet.
Während Marcio B. echte Reue gezeigt habe, habe Obaidullah H. vor allem bereut, dass ihn die Tat hinter Gitter gebracht habe, so das Gericht. Zwar sei es bemerkenswert, dass er ein Geständnis abgelegt habe. Damit er sein Wesen nachhaltig ändere, aber auch wegen der Schwere der Schuld und zur Abschreckung brauche es eine spürbare Jugendstrafe plus Therapie. Obaidullah H. müsse verinnerlichen: „Ich will nicht mehr gefährlich sein für andere“, sagt Meier-Göring. Und das werde Jahre brauchen.