Hamburg. In der härtesten Kneipe Deutschlands versucht der Wirt Pechvögeln, Prostituierten und Trinkern wieder auf die Beine zu helfen.
Letzte Chance jetzt, weg mit dem Schlager, schreit Inga*. „Sonst knallt es hier“. Sie baut sich bedrohlich auf. Versucht es zumindest. Setzt sich steif in Bewegung, wankt zu der Frau am Tresen, die zuletzt an der Jukebox war. „Komm doch!“, ruft die zurück. Inga kommt nicht weit. Ein Mann packt mit einer Pranke ihren Hals, ohne sich umzudrehen. Drückt ihren Kopf auf das kalte Holz. Sein knubbeliges Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse. Inga jault. Der Mann trinkt einen Schluck. In der Luft wirbeln Rauchschlieren.
Die Uhr zeigt 14.45 Uhr, ein Dienstag. Zumindest draußen. Dort scheint die Sonne, einige Touristen ziehen über den Kiez. Hier drinnen gibt es keine Sonne und keine Zeit, nur dunkle Vorhänge, Gelächter und Alkohol. In einer Ecke knüllen sich Campingdecken. Eine Discokugel lässt langsam Punkte über die Wände tanzen, jeden Tag, jede Minute, es ist wie ein Strudel, der Menschen mit sich reißt, in den tiefsten Abgrund und nur vielleicht wieder zurück. Inga ist seit zehn Stunden hier. „Ich hab’ meine Sinne verloren / In dem Fieber, das wie Feuer brennt“, singt Roland Kaiser, „Santa Maria“, volle Lautstärke.
Willkommen im Elbschlosskeller, sagt Daniel Schmidt. Der Wirt kommt spät, es sind viele Termine zur Zeit. Alle wollen etwas über das Leben in „Deutschlands härtester Kneipe“ am Hamburger Berg wissen. Wie schlimm es wirklich ist, die Schlägereien, Polizeieinsätze, die Männertoilette. Diese Kaschemme vollgesogen mit Leid und Geschichten. Schmidt hat darüber ein Buch geschrieben, es steht auf der Bestsellerliste. Titel „Elbschlosskeller“, Untertitel „Kein Roman“.
Seit Schmidt 18 Jahre alt ist, steht er hinter dem Tresen
„Na klar gab es da auch schon solche Momente, in denen da ein Mann mit nem Beil auf mich losgehen wollte“, sagt Schmidt. Sein Vater führte die legendäre Kneipe vor ihn. Seit Daniel Schmidt 18 Jahre alt ist, steht er selbst hinter dem Tresen. Was Inga gerade erlebt hat, ist da Kinderkram. Aber Geschrei und Gewalt sei nur die eine Art von Erlebnissen im „Keller“. Die anderen Momente sind oft leiser, aber der Grund, warum Schmidt das alles macht. „Wir sind die sozialste Kneipe der Stadt“, sagt Schmidt. Ein altes Stück Kiez seit 1952. Ein Ort zwischen Hölle und Hoffnung für Menschen, die selbst aus dem „Goldenen Handschuh“ gegenüber herausfliegen. Und für die Gäste viel mehr als eine Kneipe mit einem normalen Wirt.
Schmidt baut sich massig hinter dem Tresen auf, gibt den Gästen die Hand. Es ist ein Ritual. In einer Ecke sitzen Männer mit Rauschebärten, die schon hier tranken, als der Laden noch Schmidts Vater gehörte. Ein Touristenpärchen streunert mit Entdeckerblick herein. Sie bestellen zwei Knollen Bier und trinken sie hastig. „Einfach mal sehen, wie es wirklich hier ist“. Lange halten sie es nicht aus.
Auf den Barhockern sitzen allesamt ältere Semester, Schmidt donnert ihnen kurze Gläser auf den Tisch, die Stimmung ist jetzt wieder ruhig. Der Mann mit der Pranke lacht mit seinen Begleitern, schon seit Minuten, worüber scheinen sie vergessen zu haben. Ein gestauchter Mann daneben lallt immer wieder, er sei verprügelt worden, „sowas macht man doch nicht“, es ging um einen Schlafplatz auf der Straße. Schmidt haut „Broken Wings“ in die Jukebox und singt lauthals mit. Er zeigt auf einen noch jungen Mann auf der Bank gegenüber, er trägt ein Sakko und eine Rahmenbrille, die schlafenden Augen zucken manchmal in der Musik.
Die Trinker im Elbschlosskeller sind schlau wie Katzen
„Der ist eigentlich auf einem guten Weg“, sagt Schmidt, hat einen Job gefunden. Das Leben spült die Menschen die vier Stufen herunter, wenn sie draußen nicht mehr stehen können. Sobald der Alkohol die Wunden desinfiziert hat, versucht Schmidt ihnen zu helfen. „Ich bin da so etwas wie „Animateur, Psychologe, Freund, Bruder, Pastor und Wirt in einem“, sagt er. Rückschläge seien normal, und wer sich einfach nur in Ruhe zu Grunde trinken will, der schafft es trotz aller Bemühungen. Aber manchmal entstehen besondere Verbindungen.
Das beste Beispiel ist Sabine, genannt „Bine“ oder gleich „Mutti“. Bine war am Ende, schon seit Jahrzehnten verfiel sie immer wieder dem Alkohol, versackte manchmal wochenlang im Elbschlosskeller. Dann brannte ihre Wohnung ab. Bine ist eine stolze Frau, trotz allem, die Haare strohig und fahl, aber ihr Blick immer scharf. Sie wollte keine Hilfe, aber lebte dann doch vier Monate hier unten. Heute ist sie eine wichtige Angestellte und die gute Seele des Ladens.„Na klar, du bist hier im Keller“, sagt sie, wenn man ihr eine Frage stellt. Sie hebt auch einmal Kurze mit den Gästen, aber hat sich und die anderen im Griff. Die Kontrahentin von Inga hat sie in den Arm genommen, einige Sätze geflüstert, bis die Augen der Frau glasig und sie schnell wieder friedlich wurde.
17 Uhr, die Kneipe füllt sich immer mehr. Handwerker kommen für ihr Feierabendbier, eine Frau tanzt allein um die große Pole-Dance-Stange im Hauptraum, dem „Wohnzimmer“. Die Campingdecken in der Ecke bewegen sich plötzlich, dort versucht ein Obdachloser, weiterzuschlafen. „Ist auch Tradition, die hier wohnen zu lassen“, sagt der Wirt. Mehrere Stammgäste haben sich so postiert, dass sie schon halb mit hinter der Bar stehen. Daniel Schmidt sagt, es sei für die Gäste ein großer Erfolg, sich zu fühlen, als seien sie ein Teil des „Kellers“. Und er flapst mit ihnen, gibt ihnen kleine Aufgaben, schenkt eine neue Sorte Schnaps auf’s Haus aus. Vertrauen darf er trotzdem nur den wenigsten von ihnen. Wer sich auf ein Gespräch am Tresen einlässt, wird schnell nach einem Bier gefragt. Und wer sein Getränk für einen Toilettengang stehen lässt, sieht es nie wieder. Schmidt hat Zähler an den Spirituosenflaschen angebracht. „Die Leute haben eben dieses Verlangen“, sagt er, jede Sekunde wird genutzt, um sich Hochprozentiges zu sichern. Trinker sind schlau wie Katzen.
Frauenmörder Fritz Honka war Stammgast
An einer Wand leuchten auf vier Monitoren die Überwachungsbilder aus dem hinteren Raum. Das ist nichts gegen die alten Kiezianer, sondern eher gegen die neuen. An den Wochenenden kommt das junge Partyvolk in den Keller, auch die Kokser, sie nutzten den Kickertisch im hinteren Teil für ihren Drogenkonsum. „Und das hat Überhand genommen“, sagt Schmidt. Er will keinen Stress im Laden, auch im Elbschlosskeller ist nicht alles erlaubt. Wochenlang kommt manchmal keine Polizei in den Laden, nur der bürgernahe Beamte der Davidwache. „Und dann haben wir aus irgendwelchen Gründen mal wieder jeden Tag einen Einsatz hier“, sagt Schmidt. Rempeleien, auf einem Kopf zerschlagene Flaschen, selten Messerstiche. Zuletzt endete vor zwei Jahren ein Streit mit einer Leiche vor dem Eingang der Kneipe. „Sehr viele von den Gästen haben irgendwann in ihrem Leben gelitten, und seitdem sind sie überempfindlich“, sagt der Wirt. Wie wundgeschossene Tiere. Es braucht dann keinen Grund mehr, nur noch einen Anlass.
Auch die meisten Schauergeschichten über den Elbschlosskeller sind tatsächlich wahr, wie die einer Frau, die einen Tag lang tot am Tresen saß. „Damals gab es Schichtwechsel und jeder Kollege dachte, sie würde nur schlafen“, sagt Schmidt. Auch dass der berüchtigte Frauenmörder Fritz Honka öfter im Elbschlosskeller saß, stimmt. „Ich habe meinen Vater auch ganz aufgeregt danach gefragt, aber er sagte nur, Honka sei ein unauffälliger Typ gewesen. Der trank da nur sein Bier, während um ihn herum alle feierten“.
Die noch lebenden Gestalten der alten Kieztage finden im Elbschlosskeller ihr Refugium, im Vergleich zu früher ist es geradezu ruhig. Da ist der „schöne Klaus“, einer der einst großen Zuhälter, der schon morgens bei Wirt Schmidt trinkt, sich als Künstler und Touristenführer versucht hat. Alles vergeblich. Auch ehemalige Prostituierte kehren oft ein, die Schönheit noch zu erahnen, hinter Falten wie getrocknetem Wachs.
An diesem Dienstag dominieren die Frauen den Raum, tänzeln um die Stange, auch eine junge Frau ist dabei, Fünfundzwanzig vielleicht, aber mit alter, knarzender Stimme. Schmidt kann schwärmen von ihnen, besonders von Angie, die Frau, die am längsten im Elbschlosskeller wohnt.
Auch der Wirt hatte seine dunklen Momente
Sie kommt aus Litauen, war musikalisch hochtalentiert und hätte ein Star am Akkordeon werden können, wurde missbraucht, vergewaltigt und schließlich nach Deutschland zum Anschaffen gebracht. Sie konnte fliehen, wollte sich in Lübeck ein neues Leben aufbauen. Auch das scheiterte. Schließlich stieg sie in ein Taxi, so erzählt es Schmidt, sagte: „Bringen Sie mich zur gefährlichsten Ecke Hamburgs“. Das Taxi sei direkt zum Elbschlosskeller gefahren. Seit zwölf Jahren lebt sie die meiste Zeit in dem Laden, auch ihre Postadresse ist hier, Schmidt hat sie mehrfach auf Ämter begleitet, „weil ich es oft genug erlebt habe, dass Behörden Menschen wie sie wie den letzten Dreck behandeln.“ Manchmal tanzt sie dann wieder sechs Stunden allein im Elbschlosskeller, voller Anmut, schreibt Schmidt in seinem Buch. „Und in solchen Momenten ist sie schön.“
Schmidt ist selbst jetzt so etwas wie ein kleiner Star, sitzt in Talkshows. „Ich bin ein Typ, der manchmal vielleicht zu viel von sich preisgibt, aber ich kann auch nicht anders“, sagt er. Privat lebt er im Hamburger Osten, mit Frau und Sohn im Einfamilienhaus. Es ist mehr eine Vernunftentscheidung. „Das Herz ist auch immer bei den Gestalten hier“. Auch er hatte seine Phasen von Alkohol und Drogen, von Gewalt und Temperament.
Schmidts Schwester nahm sich das Leben, „Depressionen und psychische Erkrankungen liegen leider in der Familie“, sagt Daniel Schmidt. Bis heute gebe es Phasen, in den alles wie von selbst läuft, er wie eine Maschine funktioniere, immer zur selben Zeit schlafen und aufstehen, Kinderbespaßung, Kampfsport Arbeit, wieder von vorn. Und Phasen von zu viel Schnaps, zu wenig Kontrolle, zu vielen Gedanken. „Ich glaube, dass fast jeder den Zustand kennt, in dem viele Gäste hier sind. Die Frage ist nur, wann man es wieder herausschafft.“ Selbst wohlhabende Unternehmer setzen sich ab und an den Tresen, nicht aus Elendstourismus, sondern als Erdung. „Jeder braucht einen Ort, an dem er er selbst sein kann“, sagt Schmidt.
Draußen bricht langsam die Dunkelheit herein, nicht dass es einen Unterschied machen würde. Ein Mann kommt aus der Toilette gewankt und gibt den Blick auf einen Teich aus Urin frei. „Bine“ hat sich zu einer Gruppe von Glücksrittern an den Spielautomaten gesellt, Schmidt schaut zufrieden durch den Raum. Er müsse dann auch wieder los, damit er seinen Sohn noch sehe; er hat ihn Lennox genannt, nach einer schottischen Whiskyregion. Ein Punk trinkt noch sein Bier aus, klettert dann schnell die Stufen herauf in die Außenwelt, zu irgendetwas entschlossen.
Eine der Frauen lehnt an einer Wand in der Nähe der Jukebox, den Kopf zurückgelehnt, die Augen geschlossen. „Eins kann uns keiner nehmen / und das ist die pure Lust am Leben“, singen Geier Sturzflug. Ein Lächeln geht über das Gesicht der Frau, als gebe es keinen Schmerz auf der Welt.
*Name geändert