Hamburg. In seinem neuen Roman „Große Freiheit“ erzählt Autor Rocko Schamoni von „Wolli Indienfahrer“, der in den 60er-Jahren Furore machte.

Es ist immer gut, eine Wahl zu haben, und auch die Reeperbahn ist immer so freundlich gewesen, ihre Besucher vor die Entscheidung zu stellen: Entweder wird dir das Geld aus der Tasche gezogen oder dir wird das Geld aus der Jacke geprügelt – in einer Welt mit eigenen Gesetzen und Gesetzlosigkeiten, die jeder zu verstehen meint, bis er doch wieder in der Tabledance-Kaschemme vor der 1500-Euro-Rechnung sitzt oder die Bordsteinschwalbe mit der EC-Karten-PIN davonflattern sieht. Amüsierst du dich? Denn das findet sich.

Das ist die Große Freiheit, und die hat immer ihren Preis. Jene, die die Preise festlegen, sind derart professionell dabei geworden, der Kiez ist so schön überschminkt, dass die Pionierzeit, besonders die der 60er-Jahre mit ihrer Aufbruchsstimmung zwischen Beatlemania und sexueller Revolution offensichtlich immer mehr vermisst wird. Erinnerungen wie Michel Ruges „Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli“ oder das im kommenden April erscheinende „Elbschlosskeller: Kein Roman“ von Daniel Schmidt erzählen vom harten Pflaster. Auch Heinz Strunks „Der Goldene Handschuh“ lebt weniger vom Sterben der Honka-Mordopfer als von der detailreichen Milieubeschreibung der 60er- und 70er-Jahre.

Ideales Begleitbuch zum Handschuh

Jetzt, wo Fatih Akins „Der Goldene Handschuh“ den Kinobesuchern den Magen umdreht wie Fanta-Korn, legt Rocko Schamoni, Strunks Freund, Mentor und Partner beim Komiker-Trio Studio Braun, mit „Große Freiheit“ einen Roman vor, der das ideale Begleitbuch für den „Handschuh“ ist. So wie Strunk den Leser in den tiefsten Abgrund auf St. Pauli sacken lässt, sammelt Scha­moni ihn dort unten auf und führt ihn an die Spitze eines schillernden kleinen Kiez-Imperiums. Denn Schamoni erzählt die Geschichte von Wolfgang Köhler, besser bekannt als „Wolli Indienfahrer“, der sich einst aus der Obdachlosen-Unterkunft Pik As bis zum Bordellbetreiber hochgearbeitet hat.

Wolli verlässt 1950 mit 18 die sächsische Kleinstadt Waldheim und landet über Chemnitz, Berlin und Marl Ende der 50er-Jahre mit einer Tasche voller Bücher – Camus, Kazantzakis, Genet, Sartre – in Hamburg. Er vertickt Drogen, lockt als Koberer Flaneure in die einschlägigen Etablissements und kellnert in Bars. Und je größer sein Radius auf St. Pauli wird, je besser er die Regeln und Sprache mit Begriffen wie „Loddel“ (Zuhälter), „Tillen“ (Sexarbeiterinnen) und „Udel“ (Polizist) versteht, desto weiter klettert er auf der Leiter der Kiezhierarchie. In einer Zeit, die trotz harter Sanktionen der Behörden immer neue Sensationen braucht und Obsessionen weckt, liegt Wolli als Mitinitiator von Live-Sexshows und privaten Pornofilm-Salons stets goldrichtig.

Zu schräg, um wahr zu sein?

Im Indra sieht Wolli 1960 eine „Kinderband“: „Die sind nach ’ner Woche wieder weg vom Fenster“, ist einer von Wollis wenigen Irrtümern, auch er wird schnell den Beatles verfallen (und heimlich für die Fotografin Astrid Kirchherr schwärmen). Musik und Literatur bleiben seine Leidenschaften, im Star-Club ist Wolli ebenso oft wie im Bohème-Lokal Die Palette in der ABC-Straße. Ein belesener Rotlicht-Rock-’n’-Roller. Zu schräg, um wahr zu sein? Mitnichten.

Rocko Schamoni, der Autor („Dorfpunks“), Musiker, Clubbetreiber, Schauspieler und Komiker ist seit Jahrzehnten auf St. Pauli zu Hause und bestens mit Zeitzeugen vernetzt. Mit Wolli Köhler, der 2017 verarmt im Alter von 85 Jahren in Rissen starb, verband Schamoni eine innige Freundschaft. So hatte er nicht nur Zugang zu Material wie Gerd Kroskes Dokumentarfilm „Wollis Paradies“ (2005) oder Hubert Fichtes soziologische Prosa und Interview-Sammlungen wie „Die Palette“ (1968) und „Wolli Indienfahrer“ (1978), sondern er verwaltet auch Köhlers Nachlass.

Stoff für eine Serie

Die Ironie, dass Köhler sowohl Bildungsbürgertum – Lesen, Malen, Zeichnen – verkörperte als auch Vergnügen dabei empfand, wenn sich dieses Bürgertum nackt und in Gruppen in seinem Porno-Lichtspielraum verlustierte oder in seine angemietete Bordell-Etage schlich, fasziniert Schamoni.

Am Ende hat er sogar zu intensiv recherchiert. Besticht die erste Hälfte von „Große Freiheit“ noch als Ausbildungsleitfaden für den Rotlicht-Einsteiger und führt in heute längst vergessene Kiez-Ecken und -Läden, so zitiert die zweite Hälfte viel aus dem bekannten historischen Kontext. Eigentlich wollte Schamoni die Geschichte St. Paulis an Wollis Leben entlang bis 1982 beschreiben, aber er stieß auf zu viele Anekdoten für zu wenig Raum und musste „Große Freiheit“ gegen 1967 enden lassen. Es wird also eine Roman-Reihe geben. Und damit sehr guten Stoff für eine abendfüllende Fernsehserie.

Rocko Schamoni: „Große Freiheit“ Lesung: Do 28.2. + Mi 3.4., Deutsches Schauspielhaus, 20.00, Karten zu 22,-/12,- im Vorverkauf

Unsere Top 5 der schönsten Hamburg-Romane

Heinz Strunk: "Der Goldene Handschuh" (erschienen 2016, Rowohlt)

Hubert Fichte: "Die Palette" (1968, S. Fischer)

Michael Kleeberg: "Vaterjahre" (2014, DVA)

Brigitte Kronauer: "Teufelsbrück" (2000, Klett-Cotta)

Uwe Timm: "Die Entdeckung der Currywurst" (1993, Kiwi)