Hamburg. Die Spaltung der Bezirksfraktion in Hamburg-Mitte ist für die erfolgsverwöhnte Partei ein herber Schlag. Abweichler sollen ausscheiden.
Über Wochen waren die Scharmützel und Sticheleien immer intensiver geworden. Dass es irgendwann zum großen Knall kommen würde, hatten viele Beobachter daher erwartet. Doch als es dann so weit war, zeigten sie sich doch schockiert. Für eine Partei bei einer Wahl anzutreten und ein Mandat zu erringen, sich danach aber abzuwenden und eine eigene Fraktion zu gründen, das sei „mit demokratischen Prinzipien nicht vereinbar“, schimpfte der SPD-Mann. „Höchst fragwürdig und grenzwertig“, befand auch der FDP-Vertreter, und die Dame von der Linkspartei beklagte die „schlechte Inszenierung“.
So war das im Herbst 2014, als vier Abgeordnete, von denen je zwei eigentlich für SPD und Grüne in die Bezirksversammlung Harburg eingezogen waren, wenige Monate nach der Wahl ihren Parteifreunden den Rücken kehrten und sich zu einer neuen Fraktion unter dem Namen „Neue Liberale“ zusammenschlossen. Ob es an den miesen Kritiken der Konkurrenz lag? Eine Erfolgsstory zu schreiben war der Gruppe jedenfalls nicht vergönnt: Bei der Wahl vor einem Monat kamen die Neuen Liberalen in Harburg nur auf 2,2 Prozent der Stimmen, das Abenteuer Bezirksversammlung war für sie beendet.
Manche einer an der Spitze der Hamburger Grünen wird sich diese Episode wohl noch einmal sehr genau anschauen – um daraus Lehren für einen aktuellen Vorgang zu ziehen, der weitaus höhere Wellen schlägt und die zuletzt so erfolgsverwöhnte Partei mächtig in Aufruhr versetzt.
Nähe zum islamischen Extremismus?
Rückblick: Bei der Bezirkswahl am 26. Mai waren die Grünen gleich in vier von sieben Hamburger Bezirken stärkste Kraft geworden, außer in Altona, Eimsbüttel und Hamburg-Nord auch in der traditionellen SPD-Hochburg Mitte. 16 Mandate haben sie dort errungen, zwei mehr als die SPD. Bei 51 Sitzen insgesamt hätte das für eine stabile grün-rote Mehrheit gereicht.
Doch drei Wochen nach der Wahl machte das Abendblatt öffentlich, dass der Landesvorstand der Grünen zwei der neu gewählten Abgeordneten im Visier hat. Ihnen wird eine bedenkliche Nähe zum islamischen Extremismus vorgeworfen. „Wenn so gewichtige Vorwürfe im Raum stehen, müssen wir dem als Landesvorstand selbstverständlich nachgehen“, sagte Parteichefin Anna Gallina seinerzeit. Bevor man irgendwelche formalen Konsequenzen ziehe, suche man aber das persönliche Gespräch mit den beiden Abgeordneten.
Der neue Fraktionschef in Mitte, Manuel Muja, war da schon einen Schritt weiter: „Die Vorwürfe sind schwerwiegend, weil Zweifel aufgekommen sind, ob sich die beschuldigten Personen in vollem Umfang zu unserem Grundgesetz und unseren Grundwerten bekennen“, schrieb er an die Grünen im Bezirk und erklärte, dass die Mehrheit der Abgeordneten die Betroffenen zunächst nicht in die Fraktion aufnehmen wolle.
Grünen verlieren ihren Status als stärkste Kraft
Die nun einsetzende Dynamik dürfte die Parteispitze gehörig unterschätzt haben. Denn weitere vier Grünen-Abgeordnete solidarisierten sich mit den beiden Kollegen und traten der neuen Fraktion ebenfalls nicht bei. Mehr noch: Sie behaupteten ihrerseits, von Muja und Mitstreitern aus der Fraktion ausgeschlossen worden zu sein, warfen führenden Parteivertretern Rassismus und Rache vor und gründeten schließlich eine eigene Fraktion: „Grüne 2“.
Da an eine Zusammenarbeit angesichts derart schwerer Friktionen nicht zu denken ist, hat das schwerwiegende Konsequenzen: Mit zehn statt 16 Abgeordneten verlieren die Grünen ihren Status als stärkste Kraft; statt einer satten grün-roten Mehrheit reicht es jetzt nicht mal mehr für Rot-Grün; und die Aussicht, den amtierenden Bezirksamtsleiter Falko Droßmann (SPD) perspektivisch durch eine(n) Grüne(n) zu ersetzen, ist ebenfalls dahin. Heißt: Da platzt auch mindestens ein Karrieretraum.
Für die Landesgrünen birgt der Vorgang aber noch weitere Gefahren: Im Gegensatz zum Bezirk Harburg, der in der Regel unter dem Radar der Rathauspolitik bleibt, ist Mitte ihr Schmelztiegel. Ob Hafen, Verkehr, Großveranstaltungen oder spektakuläre Bauprojekte – bei fast allen wichtigen Themen redet dieser Bezirk ein Wörtchen mit. Dort die Mehrheit zu verlieren ist nicht nur für die Grünen, sondern auch für die rot-grüne Koalition im Rathaus ein herber Verlust. Daher schüttelt auch mancher Sozialdemokrat den Kopf über die Grünen.
"Grüne 2“-Fraktion spricht von „Racheaktion"
Zweitens wurde der Vorgang allein durch das Einschreiten des Landesvorstands auf eine höhere Ebene gehoben und erzeugt enorme Aufmerksamkeit – bei der ersten Sitzung der Bezirksversammlung am Donnerstagabend waren fast so viele Journalisten wie Abgeordnete. Zusätzlich pikant wird die Angelegenheit dadurch, dass Vertreter der „Grüne 2“-Fraktion von einer „Racheaktion von Michael Osterburg“ sprachen. Denn der langjährige Grünen-Fraktionschef in Mitte, der sich Anfang des Jahres völlig überraschend bei der Kandidatenaufstellung nicht hatte durchsetzen können, ist der Lebensgefährte der Landesvorsitzenden Gallina.
Die soll zwar ziemlich erbost sein über den Vorwurf, die Angelegenheit quasi aus Familienräson voranzutreiben, ließ ihn aber, ebenso wie Osterburg, unkommentiert. Beim „Vorwurfs-Pingpong“ spiele sie nicht mit, ließ Gallina nur ausrichten. Auch die anderen Führungsfiguren der Partei übten sich in Stillschweigen oder spielten die Bedeutung dieses Bezirksvorgangs für die Landespolitik herunter. Was auch sonst? Acht Monate vor einer Bürgerschaftswahl, bei der die Grünen erstmals ernsthafte Ambitionen auf das Bürgermeisteramt hegen, ist aus ihrer Sicht jeder Unruheherd überflüssig wie ein Kropf.
Stattdessen strebt die Parteiführung einen klaren Schnitt an. „Es kann keine zwei Grünen-Fraktionen geben“, stellte Vize-Parteichef Martin Bill am Freitag klar und sagte mit Blick auf die sechs Abgeordneten: „Wir haben sie aufgefordert, umgehend aus der Partei auszutreten. Sollten sie das nicht tun, haben wir keine andere Wahl, als ihren Ausschluss zu beantragen.“ Denn das Verlassen einer Fraktion und die Gründung einer eigenen kann in der Regel als parteischädigendes Verhalten gewertet werden.
Von Heyenn bis Schill – Ärger in Fraktionen gab es schon oft
Ähnliche Vorgänge hat es in Hamburg schon etliche gegeben, auch bei den Grünen. So wurde deren Bürgerschaftsabgeordnete Nebahat Güclü nach der Wahl 2015 wegen des Vorwurfs, bei einer türkisch-nationalistischen Organisation aufgetreten zu sein, nicht in die Fraktion aufgenommen. Später trat sie auch aus der Partei aus und 2018 in die SPD ein – deren Fraktion sie aber nicht angehört.
Anders Dora Heyenn: Die prominente Spitzenkandidatin der Linkspartei verlor nach der Bürgerschaftswahl 2015 den Kampf um den Fraktionsvorsitz, verließ die Fraktion und später auch die Partei. Mittlerweile gehört sie der SPD an und ist auch Mitglied der Bürgerschaftsfraktion. Ohne politische Heimat ist dagegen derzeit Jörn Kruse: Der frühere AfD-Landesvorsitzende und Fraktionschef hatte sich wiederholt über den Rechtsruck seiner Partei mokiert, bevor er 2018 Fraktion und Partei verließ.
Bei einem der prominentesten Fälle lief es hingegen umgekehrt: Ronald Schill flog 2003 erst aus dem Senat und dann aus der von ihm gegründeten Partei Rechtsstaatlicher Offensive, bevor seine letzten Getreuen in der Bürgerschaft die „Ronald-Schill-Fraktion“ gründeten. Bei den Neuwahlen 2004 verschwanden sie sang- und klanglos in der Versenkung.
Die Hamburger Grünen setzen offenkundig darauf, dass ihre Abtrünnigen eine ähnliche Entwicklung nehmen – was ihnen die Mandate aber auch nicht zurückbringt. Denn die hängen an der Person, nicht an der Partei.