Hamburg. Das “Cornern“ muss aufhören, fordern Kiez-Wirte und fürchten um ihre Existenz. Im Rathaus hat man den Hilferuf offenbar erhört.
Als es auch noch seinen Freund Sven Petersen und das Home of Burlesque erwischte, da reichte es Michel Ruge endgültig. "Das Home of Burlesque war eine wirklich fantastische kleine Bar, die die Erotik von St. Pauli mit ästhetischer Kunst verbunden hat. Das passte einfach zu St. Pauli." Die Schließung von Deutschlands erster Burlesque-Bar Anfang Februar, ließ Ruge keine Ruhe. So könne es jedenfalls nicht weitergehen.
Bereits im vergangenen Sommer hatte der Hamburger Buchautor (u.a. "Bordsteinkönig") seinem Ärger in einem Abendblatt-Interview Luft gemacht. "Die Stadt macht den Kiez kaputt", so Ruge damals und forderte einen "Milieuschutz" für St. Pauli sowie eine Einschränkung von Kiosken und Kieztouren. Jetzt sollen den Worten Taten folgen.
Für kommenden Sonnabend rufen Ruge und seine Mitstreiter, darunter auch die Quartiersmanager Julia Staron und Lars Schütze, zu einer Demonstration auf St. Pauli auf. Zahlreiche Bar-, Club- und Kneipenbetreiber unterstützen den Aufruf unter dem Motto "Save St. Pauli". Ein bunter Protestzug soll sich von 19.30 Uhr an auf dem Hans-Albers-Platz in Bewegung setzen. Anschließend wollen die Teilnehmer über die Reeperbahn zum Nobistor und wieder zurück in Richtung Hamburger Berg ziehen, wo eine kurze Zwischenkundgebung stattfinden soll. Eine Abschlusskundgebung ist auf dem Spielbudenplatz geplant.
"55 Kioske in einem Stadtteil sind einfach zu viele"
Die Initiatoren, die mit mehreren Hundert Teilnehmern rechnen, sehen vor allem die kulturelle Vielfalt von St. Pauli gefährdet. Der Kiez drohe ihren Charme zu verlieren, heißt es. Besonders groß ist der Unmut nach wie vor über die Vielzahl der Kioske rund um die weltweit bekannte Amüsiermeile. Neu ist das nicht. Schon seit Jahren streitet man auf St. Pauli darüber, das sogenannte "Cornern" einzuschränken. Ein Phänomen, das für die Teilnehmer eine friedliche Party auf der Straße darstellt, dessen Nebenwirkungen aber – glaubt man den Demo-Initiatoren – die Club- und Kneipenlandschaft bedroht. Gewerbetreibende klagen seit Längerem über existenzbedrohliche Umsatzeinbußen, während die Kioske florieren.
"Niemand sagt, dass es keine Kioske mehr geben soll. Aber 55 Kioske in einem Stadtteil sind einfach zu viele", sagt Michel Ruge. Besonders ärgerlich sei, dass ein Großteil dieser Kioske nicht die gleichen Auflagen habe wie Gastronomiebetriebe, obwohl ihr Kerngeschäft ganz klar aus dem Verkauf von Alkohol bestehe. "Während gastronomische Betriebe Toiletten vorhalten, Brandschutz und Schallschutzmaßnahmen nachweisen müssen und vielerlei Abgaben zu tragen haben, müssen Kioske nichts dergleichen berücksichtigen. Das ist nicht gerecht und verzerrt den Wettbewerb."
Durch die Vielzahl der Kioske verändere sich auch das Publikum rund um die Reeperbahn. "Die Kioske ziehen gerade die Leute an, die das inhaltliche Programm von St. Pauli wie Live-Musik, Theateraufführungen oder auch erotische Darbietungen nicht wahrnehmen wollen, sondern nur zum Saufen hierher kommen – mit all seinen negativen Begleiterscheinungen." Es sei daher kaum verwunderlich, dass immer mehr der alten Stammgäste heute dem Kiez fernblieben.
Im Bezirksamt Mitte kennt man die Beschwerdelage. „Die ausufernde Anzahl von Kiosken stellt ein massives Problem dar, das die Kultur St. Paulis insgesamt gefährdet“, sagte Bezirksamtsleiter Falko Droßmann (SPD) dem Abendblatt. „Wir haben bislang leider keine Handhabe bei diesem Thema. Dies liegt nicht, wie zuweilen behauptet wird, an fehlendem Personal für Kontrollen, sondern an einer fehlenden Gesetzgebung als Grundlage für bezirkliche Maßnahmen“.
Rot-Grün will gegen Verkauf von Billigalkohol vorgehen
Das könnte sich demnächst ändern. „Wir haben den Hilferuf aus den Bezirken Mitte und Altona erhört“, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen-Bürgerschaftsfraktion, Farid Müller am Donnerstag. Demnach will Rot-Grün gegen den zunehmenden Verkauf von Billig-Alkohol verstärkt vorgehen, wie die Regierungsfraktionen mitteilten. Zudem soll durch ein Gutachten geklärt werden, wie sich die Lage an bestimmten Brennpunkten wie der Reeperbahn tatsächlich darstellt. „Wir prüfen die Möglichkeiten, dass Kioske an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten keinen Alkohol verkaufen dürfen“, sagte die Bürgerschaftsabgeordnete Jette von Enckevort (SPD). Konkret wird darüber nachgedacht, ob nach 22 Uhr der Kiosk-Verkauf von Alkohol in Stadtteilen wie St. Pauli und St. Georg gerichtsfest untersagt werden kann.
Neu ist dieser Vorschlag nicht. Eine entsprechende Gesetzesänderung ist seit Jahren im Gespräch, wurde jedoch nie umgesetzt. Dabei hatte schon Innensenator Andy Grote (SPD) in seiner Zeit als Bezirksamtsleiter gefordert, den Ausschank von Alkohol in Kiosken zeitlich einzuschränken. Sein Nachfolger Droßmann hatte damit lange Zeit ebenfalls keinen Erfolg im Rathaus.
Mit ihrem Protest wollen die Veranstalter von "Save St. Pauli" den Druck auf die Politik nun noch einmal deutlich erhöhen und zugleich an die Kiez-Besucher appellieren. Die Demonstration am Sonnabend soll daher nicht die letzte Aktion bleiben. Unter dem Motto "Der ganze Kiez ein Kiosk" wollen viele Restaurants und Clubs am 23. März für eine Nacht nur aus dem Fenster heraus verkaufen – ohne Toilettennutzung.
St.-Pauli-Fans nehmen Kioske in Schutz
Doch St. Pauli wäre nicht St. Pauli, wenn dort alle einer Meinung wären. Insbesondere in der linken Szene werden Stimmen laut, die dazu aufrufen, der Demonstration fernzubleiben. Unter dem Motto "Eure Demo ohne uns!" veröffentlichte der Fanclub „Gehirnamputierte Szene" St. Pauli (G.A.S.) eine entsprechende Mitteilung auf Facebook. "Die Organisator*innen der Demonstration haben die Leute, die sie nicht mehr vor ihrer Tür haben wollen, selbst ins Viertel geholt! Niemand geht auf den Kiez allein wegen der Kioske", so die Fans in ihrem Statement.
Die Kioske allein für den Zustand von St. Pauli verantwortlich zu machen, sei falsch. "Vielleicht gehen die Leute zu den Kiosken, weil sie die Zeit lieber draußen im öffentlichen Raum verbringen? In den meisten Gegenden der Welt wird problemlos die ganze Nacht draußen gefeiert, solange öffentliche Orte noch nicht privatisiert sind." Darüber hinaus würden manche Menschen in viele Läden gar nicht mehr hineingelassen. Hinzu komme auch, dass die Getränke in vielen Bars und Kneipen oftmals zu teuer für sie seien. Insbesondere Kiez-Besucher mit wenig Geld hätten in Kiosken die Möglichkeit, günstig einzukaufen oder Pfand zu sammeln.
Auch der Betreiber eines Kiosks an der Hein-Hoyer-Straße verteidigt sich. "Die Klientel, die hier bei uns ihren Alkohol kauft, hat nicht genug Geld, den ganzen Abend in den Bars zu trinken. Da kratzen viele jeden Cent aus den Taschen." Einen Kiosk zu betreiben sei ein ehrliches Geschäft. "Jeder Kiosk hat auch Mitarbeiter. Da hängen auf St. Pauli mittlerweile Hunderte von Existenzen dran", so der Betreiber.
"Kein Eldorado für Spekulanten"
Nicht der einzelne Kiosk an sich sei das Problem, sondern die Masse, betont Quartiersmanagerin Julia Staron. "Dahinter steckt auch ein Profitinteresse der Eigentümer, die lieber an einen Kiosk vermieten, der keine Auflagen erfüllen muss und demnach keine Ansprüche stellt, aber dafür eine hohe Miete zahlen kann." Staron ist sicher: "Wenn Eigentümer anders vermieten würden, hätten wir das Problem gar nicht."
Der Protest am Sonnabend richtet sich demnach nicht nur an die Politik, sondern auch an die Eigentümer und Vermieter rund um die Reeperbahn. "Spekulanten, die Mietpreise verlangen, die kleine Clubs wie das Home of Burlesque nicht mehr finanzieren können, müssen endlich gestoppt werden", fordert Michel Ruge. Aus seiner Sicht, sei eine Mietpreisbremse, die auch für Gewerbeflächen gelte, ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. "St. Pauli ist kein Eldorado für Spekulanten."
Ein "Weiter so" habe für ganz Hamburg dramatische Folgen, betont Ruge, schließlich sei die Reeperbahn für die Stadt von großer Bedeutung, allein schon touristisch. "Wir wollen weiterhin einen bunten Kiez, ein St. Pauli, in dem kleine Live-Clubs und große Diskotheken, Kneipen, Bars und Cabarets weiterhin friedlich nebeneinander existieren können", so Ruge. Am Ende sei St. Pauli eben nicht nur ein Stadtteil. Für ihn ist es auch eine Lebenseinstellung.