Hamburg. Der Hamburger fordert „Milieuschutz“ für St. Pauli, ein Verbot von Kiosken und Kieztouren und erwägt Eintritt für die Herbertstraße.
Der Hamburger Buchautor Michel Ruge (u.a. „Bordsteinkönig“) hat seine Kindheit und Jugend auf dem Kiez verbracht, bevor er für fast zwei Jahrzehnte Hamburg den Rücken kehrte. Jetzt ist er zurück – und entsetzt, wie sich „sein“ Stadtteil verändert hat. Ruge fordert „Milieuschutz“ für St. Pauli und ein Verbot von Kiosken und Kieztouren. Der Stadtteil drohe sonst seine Seele zu verlieren.
Ihr Vater war Bordellbetreiber auf St. Pauli. Sie selbst haben Ihre „wilde Jugend“ in den 70er- und 80er-Jahren auf dem Kiez verbracht und mit „Bordsteinkönig“ ein Buch über diese bewegende Zeit geschrieben. Die letzten 18 Jahre Ihres Lebens haben Sie dann in Berlin verbracht. Warum sind Sie zurückgekehrt?
Michel Ruge: Es klingt vielleicht kitschig, aber ich habe mich nach der Schönheit dieser Stadt gesehnt. Berlin ist rau, manche sagen, die Stadt ist wie Salzsäure auf der Seele. Da ist was dran. Hamburg ist wahnsinnig schön und hat mit St. Pauli den tollsten Stadtteil. Die kleinen Gassen, der Hafen, der Wind – all das waren Gründe für mich, zurückzukommen. Letztendlich galt für mich immer der Spruch: Du kannst St. Pauli verlassen, aber St. Pauli verlässt dich nie.
Was schätzen Sie so an diesem Stadtteil?
Es ist vor allem dieses Nachbarschaftliche, das ich schon in meiner Kindheit erlebt habe. Man grüßt sich, hält einen Schnack miteinander und steht zusammen, wenn es darauf ankommt. Die Wärme, die ich hier erlebe, beeindruckt mich immer wieder.
Wie hat sich St. Pauli seit Ihrer Jugend verändert?
Der Tourismus ist förmlich explodiert auf St. Pauli. Das Rotlicht ist hingegen weitgehend zurückgedrängt worden und wird nun als Attraktion für Touristengruppen verkauft und dadurch völlig entfremdet. Das hat schon Schausteller-Charakter. Ich finde es mehr als befremdlich, wie Familien sich heute bei diesen Rundgängen über die Frauen aus dem Milieu lustig machen, wenn sie Freier an der Straße ansprechen. Es ist kein Wunder, dass immer mehr der alten Stammgäste, die früher auf den Kiez gegangen sind, heute fernbleiben.
Dabei gilt die Reeperbahn noch immer als „die sündigste Straße Deutschlands“.
Das ist doch längst vorbei. Statt Rotlichtbetrieben gibt es in jedem zweiten Haus inzwischen einen Kiosk auf der Meile, wo sich Touristen bei einem Longdrink für drei Euro andere Touristen anschauen, die in Heerscharen über die Reeperbahn drängen. Authentische Läden und kleine Kneipen haben dagegen keine Chance. Die Stadt macht den Kiez kaputt.
Wieso sehen Sie die Stadt in der Verantwortung?
Wir haben inzwischen rund 50 Kioske im Stadtteil. Es soll mir doch keiner erzählen, dass man dagegen nichts hätte machen können. Bars und Kneipen haben strenge Auflagen zu erfüllen, und das soll für einen Kiosk alles nicht gelten? Gleichzeitig macht das Bezirksamt Traditionsläden wie die Tabledance-Bars an der Reeperbahn dicht und entzieht ihnen die Konzession.
Liegt es nicht daran, dass die betroffenen Bars durch ihre „undurchsichtige Preispolitik“ in Verruf geraten sind und der Bezirk diese Betrugsdelikte nicht tolerieren kann?
Diesen Nepp gab es doch schon früher in meiner Kindheit, das war allgemein bekannt. Jeder muss wissen, was auf ihn zukommt, wenn er nach St. Pauli geht.
Soll der Staat also Abzocke auf dem Kiez tolerieren?
Es geht natürlich nicht, dass Betrug legal gemacht wird. Ich glaube aber, dass man eine Lösung finden müsste, um solche Adressen als Kulturinstitutionen zu erhalten.
Tabledance als Kulturgut? Ist das nicht übertrieben?
Das finde ich nicht. Die Rotlichtbetriebe gehören zum kulturellen Erbe dieses Stadtteils. Man darf schließlich nicht vergessen: Die vielen Besucher kommen doch, weil sie die Geschichten aus den 60er- und 70er-Jahren hören wollen – von Milieugrößen und Bandenkriegen. Wenn die Reeperbahn nur noch aus Hotels, Kiosken und ein paar Theatern besteht, ist der Kiez am Ende. Davon sind wir nicht mehr weit entfernt. Der Kiez ist wie ein Biotop: Irgendwann kippt es.
Im Internetzeitalter gibt es Erotik auf Knopfdruck. Wieso sollte die Stadt Betriebe am Leben erhalten, die heute nicht mehr gefragt sind?
Ich glaube nicht, dass Strip-Bars und Kabaretts nicht mehr gefragt sind. Das Publikum kommt heute nur nicht mehr auf dem Kiez, weil es sich nicht mehr wohlfühlt.
Wie soll die Stadt in Ihren Augen solche Gewerbebetriebe auf St. Pauli schützen?
Es braucht zum einen endlich eine Mietpreisbremse für das Gewerbe, wie sie bislang nur für Wohnraum gilt. Den Investoren muss ein Riegel vorgeschoben werden. Des Weiteren denke ich an „Milieuschutz“ in Form eines Fonds, der staatlich gefördert wird. Vielleicht muss man zukünftig sogar darüber nachdenken, Eintritt für die Herbertstraße zu verlangen und den Freiern dann eine entsprechende Gutschrift anzubieten. Man muss Bordelle ja nicht fördern, aber sie zumindest in Ruhe lassen und nicht als Kulisse für Shows wie diese Führungen missbrauchen.
Was ist so schlimm daran, wenn Menschen Besuchern den Kiez zeigen?
St. Pauli wird immer mehr zu einem Zoo. Die Bewohner leiden massiv unter den vielen Rundgängen. Die meisten Guides haben doch überhaupt nichts mit St. Pauli zu tun, sie machen den Kiez damit lächerlich. Ich bin dafür, derartige Führungen zu verbieten – ohne Ausnahme. Die Besucher mit ihren Rucksäcken und ihrer Funktionskleidung passen nicht ins Bild von St. Pauli, sie verderben die Atmosphäre auf dem Kiez.
Aber sorgen die Touristen nicht auch für eine Menge Umsatz? Auch Kultkneipen wie die Ritze oder der Silbersack sind auf den Tourismus angewiesen.
Die Ritze hat auch ohne Tourismus immer funktioniert. Natürlich gab es früher schon Touristen dort, aber das war eine andere Art von Besuchern. Heute machen die meisten nur noch ein Selfie vor der Kneipe, trinken aber tun sie dort nichts.
Hat sich die Nachfrage nicht einfach verändert? Andere Unternehmer sind auf dem Kiez ja durchaus erfolgreich.
Das, was Olivia Jones, Corny Littmann und Co. machen, ist für mich der „Aldi-Charakter“ des Entertainments: auf Masse, für jeden mundgerecht und rein auf Betriebswirtschaftlichkeit ausgelegt. Sie machen St. Pauli mit dieser Art der Unterhaltung gewöhnlich, es nimmt dem Kiez Authentizität und Charme. Sie haben dafür gesorgt, dass heute die Masse der Ballermann-Touristen über die Reeperbahn zieht.
Aber haben Menschen wie Corny Littmann durch ihr Engagement den Kiez nicht auch wieder neu belebt?
Ich sage nicht, dass alles super war, wenn man an die depressive Phase Ende der 80er zurückdenkt. Was Corny Littmann in seiner Anfangszeit gemacht hat, ist beeindruckend und verdient Respekt. Aber das Schmidt Theater ist heute längst kein schwules Theater mehr. Der revolutionäre Gedanke der Anfangstage ist verschwunden. Stattdessen breiten er und seine Geschäftspartner sich immer weiter aus. Sie verhalten sich höchst undankbar gegenüber St. Pauli, indem sie ihre Interessen immer weiter vorantreiben. Darunter leiden vor allem die kleinen Gewerbetreibenden auf dem Kiez.
Konzepte wie das Klubhaus am Spielbudenplatz kommen jedoch gut an und werden international gewürdigt.
Das sind in meinen Augen seelenlose Konzepte, die nichts mit St. Pauli zu tun haben. Solche Läden könnte es auch überall sonst geben.
Müssen wir mit dem Kiez also zurück in die 70er-Jahre Ihrer Jugend?
Es geht mir nicht darum, alles Alte zu erhalten und das Neue zu verhindern, aber die ursprüngliche Struktur muss erhalten bleiben. Meine Sorge ist, dass der Kiez irgendwann nur noch aus Kiosken, Flagshipstores, Dönerbuden und Hotels besteht und St. Pauli damit seine Seele endgültig verliert. St. Pauli war für mich auch immer ein Ort, der Menschen angezogen hat, die aus dem Raster gefallen sind oder aus dem bürgerlichen Leben ausbrechen wollten. Gerade in unserer heutigen Zeit, in der alle nur auf Leistung gedrillt sind und funktionieren müssen, ist es wichtig, solche Orte zu erhalten.