Hamburg. Dank der neuen App kann sich jeder auf die Reise in die Vergangenheit begeben. Eine virtuelle 3-D-Welt bietet spannende Einblicke.

Der junge Kaiser Wilhelm II. steht auf der Brooksbrücke in der Hamburger Speicherstadt und setzt mit Polierhammer und Mörtelkelle den Schlussstein ein. Dreimal schlägt er zu. „Zur Ehre Gottes. Zum Besten des Reiches. Zu Hamburgs Wohl“, ruft der Kaiser bei jedem Hieb. Die Menschenmenge johlt. Es ist der 29. Oktober 1888, als sich Zehntausende Hamburger auf den Straßen versammeln und die Einweihung der Speicherstadt feiern.

Wer dieses historische Ereignis miterlebt hat, ist ebenso wie Kaiser Wilhelm II. nicht mehr am Leben. Doch dank einer neuen App kann sich jeder Geschichtsliebhaber auf die Reise in die Vergangenheit begeben.

So funktioniert sie: Unter dem Namen „Speicherstadt digital“ ist die Anwendung im App-Store zu finden und kann gratis heruntergeladen werden. Auf dem Display des Smartphones oder Tablets erscheint eine Landkarte, auf der das 26 Hektar große Areal in der HafenCity rot eingefärbt ist.

Reale Umgebung verschmilzt mit historischen Aufnahmen

Der Nutzer kann neun Stationen – wie zum Beispiel das Kontorhausviertel, das Zollmuseum oder das Kesselhaus – auswählen. Dann werden ihm Hintergrundgeschichten, historische Bilder der vergangenen 100 Jahre sowie Kurzhörspiele und Augenzeugenberichte angezeigt. Dazu muss er sich nicht in der Speicherstadt aufhalten, sondern kann sie bequem von zu Hause aus entdecken. Die Kurzhörspiele von zwei bis sechs Minuten sind von 18 Sprechern des NDR-Hörfunks eingesprochen worden. „Es ist uns gelungen, die Geschichte der Speicherstadt nicht nur abzubilden, sondern auch mit Stimmen und Stimmung sinnlich erfahrbar zu machen“, sagt Michael Plöger, Leiter der Zentralen Programmaufgaben.

Der Nutzer erlebt die Einweihung der Speicherstadt durch die Gespräche eines alten Ehepaars. Mit typischem Hamburger Schnack erzählt es, wie der Kaiser in der Kutsche vorfährt, den letzten Stein in der Brooksbrücke einsetzt und die Menschen ihm zujubeln. Auch zu hören sind trampelnde Pferde, Trompeten und die Einschläge des Polierhammers.

„Es fühlt sich fast so an, als wäre man dabei gewesen, als Wilhelm II. die Speicherstadt eingeweiht hat“, schwärmt Kultursenator Carsten Brosda am Donnerstagmittag bei der ersten öffentlichen Präsentation der App im Dialoghaus am Alten Wandrahm. Das Projekt „Speicherstadt digital“ hat die Kulturbehörde für ihre Digitalisierungsstrategie „eCulture“ mit diversen Kooperationspartnern wie der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) und dem NDR umgesetzt.

Ziel ist es, kulturelle Inhalte für jedermann digital zugänglich zu machen. Dabei betont Brosda, dass es eine stetige Weiterentwicklung der App geben werde: „Wir präsentieren heute kein fertiges Produkt, sondern einen Zwischenstand. Wir werden immer besser.“ Die wohl interessanteste Funktion der App ist die sogenannte „Augmented Reality“ (zu Deutsch: erweiterte Realität). Wenn Besucher der Speicherstadt durch das Smartphone ihre Umgebung betrachten, werden historische Aufnahmen eingespielt. Sie verschmelzen mit dem Kamerabild der realen Umgebung und zeigen, wie das Welterbe früher ausgesehen hat. „Das funktioniert allerdings nur vor Ort“, gibt Esther Lara, Projektleiterin von Generalunternehmer Dataport, zu bedenken. Und weiter: „Dass wir innerhalb eines Jahres jetzt ‚Speicherstadt digital‘ vorstellen können, ist für uns ein voller Erfolg.“

Gratis-WLAN in der Speicherstadt eingerichtet

Mitten auf dem Alten Wandrahm, auf dem sich jede Menge rote Backsteinhäuser dicht an dicht reihen, taucht auf dem Handydisplay ein altes Gebäude in Schwarz-Weiß auf. Logisch, früher gab es noch keine Farbfotografie. Insgesamt 24 Vergleichsbilder sind in dem weltgrößten, historischen Lagerhauskomplex im Hamburger Hafen versteckt. Auch in der Nähe des Kaffeemuseums, auf der Pickhubenbrücke oder auf dem Brooksfleet können alte Bilder – fast wie bei der Trend-App „Pokémon Go“ – eingefangen werden.

Welche Positionen und Blickwinkel sich ideal für den Vorher-Nachher-Effekt eignen, wird ebenfalls auf der Landkarte im Stil von GoogleMaps angezeigt. Ein kleiner Kompass oben links in der Ecke verrät, an welchen Orten weitere Bilder aus der Vergangenheit zu finden sind. Damit die Angebote der App optimal funktionieren, ist in der Speicherstadt ein flächen­deckendes WLAN-Netz eingerichtet worden. Die Nutzung von „MobyKlick“ ist kostenlos.

„Diejenigen, die hier vor 100 Jahren gearbeitet haben, hätten sich nicht erträumen lassen, dass wir mittels Technologie ihre Welt wieder zum Leben erwecken“, sagt Brosda. Das Erlebnis würde durch eine App noch realer werden als es Büchern, Fotografien oder Museen gelingen würde. „Wir müssen keine Informationstafeln mehr an Hauswänden suchen“, sagt der Kultursenator. Wie praktisch.

Um noch besser nachvollziehen zu können, wie die Menschen früher in der Speicherstadt gearbeitet haben, hat die HAW Hamburg im Zuge des Projekts eine virtuelle 3-D-Welt erschaffen. Brosda selbst hat das sogenannte Virtual-Reality-Erlebnis am Donnerstag im Foyer des Dialoghauses (Alter Wandrahm 4) getestet.

Durch eine spezielle Brille taucht er in eine digitale Welt ein. Brosda steht mitten in einem Kesselhaus. In der rechten Hand hält er einen Con­troller. Er bückt sich, hebt eine imaginäre Schaufel auf und schippt einen Haufen Kohle in einen der glühenden Kessel. Auch in der Realität imitiert der Senator die Schaufelbewegung eines Hafenarbeiters. Den Controller muss er schütteln, damit die Kohle von der Schaufel fällt. Die Spielstätte ist detailverliebt nachgestellt und wird für den Beobachter auf einen Fernsehbildschirm an der Wand projiziert.

„Der Kessel fühlt sich zwar nicht heiß an, ansonsten ist das Erlebnis aber ziemlich real“, sagt Brosda, als er die Brille wieder abnimmt. Noch bis zum 31. März des nächsten Jahres können Besucher die 3-D-Welt kostenlos im Dialoghaus, das vor allem durch die Ausstellung „Dialog im Dunkeln“ bekannt ist, ausprobieren. Die App läuft auf unbegrenzte Zeit weiter.

Die neue App ist für Touristen und Hamburger zugleich da

Finanziert wird das Gesamtprojekt aus Geldern, die in die Agenda „eCulture“ fließen. „Jedes Jahr erhält die Initiative einen siebenstelligen Betrag“, erklärt Enno Isermann, Sprecher der Kulturbehörde. Wie viel davon in „Speicherstadt digital“ investiert werde, sei schwer zu sagen, da Fotos mehrfach für unterschiedliche Projekte genutzt werden.

Die App ist für jedermann entwickelt worden – sowohl für Touristen als auch für die Hamburger selbst. „Wir wollen ein ganzes Stadtviertel auf diese Weise erlebbar machen. Nicht nur für diejenigen, die sich hier tagtäglich bewegen. Sondern auch für jemanden, der neu in die Stadt kommt“, sagt Senator Brosda. Vor allem aber für diejenigen, die nicht miterlebt haben, wie Kaiser Wilhelm II. die Speicherstadt mit dem letzten Stein eingeweiht hat.